■ Gastkommentar: Deutschland im Herbst 92
In Sachsenhausen wurden Erinnerungen zu Asche. Wäre der öffentliche Widerspruch so zuverlässig, wie die extreme Rechte sich organisiert hat, um Deutschland brauchte einem nicht bange zu sein. Zum Freitag nachmittag rufen alle Fraktionen des Oranienburger Stadtparlaments gemeinsam zur Kundgebung auf, Sachsenhausen liegt in ihrem Kreis. Dann ist der Brand genau eine Woche alt. Seit Monaten hat jeder gesehen, wie der Fremdenhaß zur Gewalt gegen Ausländer eskaliert, seit Jahren wird an der Vergangenheit herumrevidiert. Wo Lenin-Denkmäler geschliffen und Bücher auf den Müll gekippt werden, gärt ein politisches Klima, dessen aktuelle Wucherungen keine Überraschung sind. Aber plötzlich ist das, was bislang »Randale« hieß, bundesweit zur Chefsache anvanciert. In Betroffenheitserklärungen veröffentlichen nun führende Politiker ihren Abscheu vor den Nazis, den Antisemiten und der Gewalt. Jetzt soll vereint gehandelt werden, große Massendemonstrationen gehören für das Ausland ins Bild gesetzt.
Fraglich ist, ob sich die Bevölkerung mit ihren Abgeordneten rechts von der Mitte beteiligt. Denn unklar ist, mit wem das deutsche Wahlvolk in diesen Tagen geht. Dies fragt sich alle Welt und erschrickt vor den Möglichkeiten, denn die neudeutschen Signale stehen auf rechts. Mit dem Feuer in Sachsenhausen wurde das dreiste Übergangsritual derer fortgesetzt, die nicht weniger als die Macht wollen, wenn möglich schon bei den nächsten Wahlen.
Wie lange wird die Linke aus alter Gewohnheit noch zersplittert bleiben? In der Nacht nach Sachsenhausen wurde in Cottbus der Gedenkstein an die Reichspogromnacht vom Sockel geschlagen. Auch Polizeistationen werden jetzt überfallen, obgleich sich die Staatsmacht wendig vor dem rechten Zugriff geduckt hatte. Es gibt eine Liste von Friedhofsschändungen, Verwüstungen sowjetischer Ehrenmale, der täglichen Brutalität gegen Ausländer, vom entwürdigenden behördlichen Umgang begleitet. Der Ruf nach Ruhe, Ordnung, Sicherheit und mehr Polizei und weniger Ausländern wird bald sein populäres Sprachrohr finden, nachdem sich in Rostock gezeigt hat, daß Autos und Fenster deutscher Staatsbürger auch nicht bruchfest sind. Mittlerweile machen wir uns jeden Morgen mit der neuesten Überfallstatistik auf Ausländer bekannt, allmählich eine Routineinformation zwischen fremder Leute Krieg, Drogenhandel, Kapitaltransfer und dem Wetter des Tages. Der Beifall der Bevölkerung wird gesondert erwähnt. Das ist Deutschland im Herbst 92. Irene Runge, Jüdischer Kulturverein Berlin
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