■ Gastkommentar: „Bewährte“ Schikane
In der Verkehrspolitik ist deutlich ablesbar, wie mit den „sozialistischen Errungenschaften“ der DDR umgegangen wird. Die in der StVO (Ost) verankerte Vorfahrt für die Straßenbahn wurde gegenstandslos – sie stand ja nicht in der StVO (West). Der grüne Pfeil wurde jedoch – auf Drängen Berlins – übernommen. Der Blick durch die Windschutzscheibe der Großen Autofahrerkoalition machte es möglich. Fahrgast-, Fahrrad- und Behindertenverbände wetterten, weil sie eine zusätzliche Gefährdung der schwächeren VerkehrsteilnehmerInnen sehen. Sie befürchteten – zu Recht –, daß die Autofahrer den grünen Pfeil mit der grünen Ampel verwechseln. Selbst die PDS – ansonsten die Gralshüterin der DDR-Nostalgie – schloß sich dem Protest an. Obwohl jeder zweite Autofahrer die Regeln verletzt, hat sich für Autofetischist Schmitt der grüne Pfeil „bewährt“. Für ihn heiligt der Zweck die Verletzung von Law and order! Das Konfliktpotential soll niedrig gewesen sein. Warum wohl? Soll der Fußgänger etwa todesmutig das auf ihn zurasende Auto zum vorschriftsmäßigen Halt zwingen? Von 1990 bis 1994 starben allein 78 Kinder auf Berlins Straßen, obwohl sich die meisten vorschriftsmäßig verhielten. Und wie sieht die Fürsorge sonst aus? Aus „Sicherheitsgründen“ ist es verboten, mit dem Fahrrad Einbahnstraßen in Gegenrichtung zu befahren, obwohl das in Holland und der Schweiz konfliktlos praktiziert wird. Aus „Sicherheitsgründen“ müssen Fahrräder selbst in Tempo-30-Straßen die schmalen Gehweg-Radwege benutzen, obwohl die Gefährlichkeit wegen der fehlenden Sichtbeziehung erwiesen ist und viele dies mit dem Leben bezahlt haben. Fazit: Das Fahrrad- und Fußvolk wird aus „Sicherheitsgründen“ permanent schikaniert, der Autofahrer bekommt freie Fahrt – selbst bei roter Ampel! Michael Cramer
Abgeordneter und Verkehrsexperte von Bündnis 90/ Die Grünen
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