: Ganz umsonst gezittert
Der wahre „Tag der Befreiung“ war im Osten Deutschlands nicht der 8. Mai 1945, sondern der 9. November 1989, denkt der Historiker Hubertus Knabe. In seinem Sinne stilisiert er sich zum Anwalt der „vergessenen Opfer – und argumentiert furios am aktuellen Diskurs vorbei
von SEBASTIAN ULLRICH
Er „zittere vor Kühnheit“. Das bekannte Martin Walser, als er 1998 in seiner Friedenspreisrede den bundesdeutschen Umgang mit Auschwitz scharf kritisierte. Ebenso kühn zitterte offenbar nun auch Hubertus Knabe, als er in seinem neuen Buch die These formulierte: Für Ostdeutschland ist nicht der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung gewesen, sondern erst der 9. November 1989.
„Kein Tag der Befreiung“ sollte dementsprechend das neue Werk des Leiters der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ursprünglich heißen. Auf dem Buchumschlag setzte der Propyläen-Verlag nun lieber ein vorsichtiges Fragezeichen hinter die Befreiungsthese – und das, obwohl der Autor eindeutig Position bezieht.
Um seine These zu verdeutlichen, schildert Knabe detailliert und eindringlich, wie die Rote Armee bei ihrem Vormarsch massenhaft Männer liquidiert und Frauen vergewaltigt hat, wie die deutschen Kriegsgefangenen und die deportierten deutschen Zivilisten aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße zu leiden hatten, wie Militärverwaltung und Geheimpolizei in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die Bürger schikanierten.
Dieses rücksichtslose Verhalten, so Knabe, ist nicht als Reaktion auf die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erklären, sondern aus dem Charakter des stalinistischen Herrschaftssystems. Die Gewalttätigkeiten der Rotarmisten seien das Produkt einer gewollten politischen Strategie. Das ist der provokative Kern seiner Argumentation. Wer hier auf den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht im Osten verweisen würde, entlasse die sowjetischen Führer aus ihrer politischen Verantwortung.
Auch lasse sich nicht die Zwangsarbeit durch Kriegsgefangene und Zivildeportierte als legitime Form der Wiedergutmachung deuten, da die schlechte Behandlung zu unglaublich vielen Toten führte. Dies sei nur aus dem menschenverachtenden Charakter des sowjetischen Regimes zu erklären. Zudem kann für Knabe die Verhaftungswelle durch den Geheimdienst NKWD in der Sowjetischen Besatzungszone nicht als Beitrag zur Entnazifizierung gesehen werden. Sie ist vielmehr als Übertragung des stalinistischen Terrorsystems zu werten, durch die die Diktatur der Kommunisten vorbereitet werden sollte.
Knabe ist geradezu ängstlich darauf bedacht festzuhalten, dass es ihm keineswegs um eine Relativierung der NS-Verbrechen geht. Dennoch setzt er sie immer wieder mit dem sowjetischen Vorgehen in Ostdeutschland gleich. Das Kriegsende hat dort nur den Übergang von einer menschenverachtenden Diktatur in die nächste gebracht, lautet sein Fazit. Gelegentlich entsteht sogar der Eindruck, er halte das Regime Stalins für schlimmer als das „Dritte Reich“. So, wenn er ausführt, dass die Chancen in einem nationalsozialistischen KZ zu überleben größer gewesen seien als in einem sowjetischen Speziallager in der SBZ.
Es scheint, dass der Autor sich nach den geschichtspolitischen Verhältnissen der 50er-Jahre zurücksehnt. Denn damals bezeichnete man die Internierungslager der Sowjets in der Bundesrepublik noch als „rote KZ“ und betrachtete den Einmarsch der Roten Armee losgelöst von dem Verhalten der Wehrmacht in der Sowjetunion. Den Veränderungen im Umgang mit der eigenen Vergangenheit seit Mitte der 60er-Jahre scheint Knabe jedenfalls ausgesprochen kritisch gegenüberzustehen.
Sein bisweilen missionarischer Tonfall erklärt sich zu einem großen Teil aus seiner Behauptung, dass die sowjetischen Verbrechen in Ostdeutschland seitdem einen blinden Fleck in unserem Geschichtsbild darstellten. Demgegenüber sieht sich der Autor als Anwalt der vergessenen Opfer. Von einer Verdrängung des durch die Rote Armee und die sowjetische Geheimpolizei verursachten Leids kann heute jedoch nicht mehr ernsthaft die Rede sein.
Nichts verdeutlicht dies besser als die Rede von Horst Köhler zum diesjährigen 8. Mai. Der Bundespräsident erinnerte dort ausdrücklich an die deutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in der Sowjetunion, an die Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Opfer der Massenvergewaltigungen. Auch schilderte er ausführlich das Unrecht, das die sowjetische Besatzungsmacht beim Aufbau der SED-Diktatur beging. Deutlich hat der Horst Köhler jedoch den Versuchen eine Absage erteilt, das deutsche Leid bei Kriegsende von den vorausgegangenen deutschen Untaten zu entkoppeln.
Man könnte es bei aller Kritik begrüßen, dass sich in der stark westdeutsch dominierten Erinnerung an das Kriegsende eine ostdeutsche Stimme vernehmen lässt. Aber ein Blick auf Knabes Biografie zerstört diese Illusion. Denn der Autor kommt aus Unna, und das liegt bekanntlich tief im Westen.
Hubertus Knabe: „Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland“. Propyläen Verlag, Berlin 2005, 388 Seiten, 24 Euro