■ Ganz Frankreich streikte – war dies die erste Revolte gegen die liberale Weltwirtschaft in einem reichen Land?: Der Stellvertreterstreik
Was ist eigentlich passiert?
Betrachten wir es zuerst einmal von der schönen Seite: Drei Wochen lang war es zwar winterlich kalt, aber meistens schien die Sonne. Ein paar Schneeflocken erinnerten an die Weihnachtszeit und lieferten den Karikaturisten ein schönes Motiv – einen eingeschneiten Premierminister Juppé, der unerschütterliche Gewißheit ausstrahlt: „Der Schnee bleibt nicht liegen!“
Und er hat recht behalten. Die Rad- und Rollschuhfahrer eroberten Paris. Sie waren gut trainiert, denn schon seit dem Sommer sah man sie auf den Schnellstraßen am Seine-Ufer, die Bürgermeister Tiberi sonntäglich für den Autoverkehr sperrte. Als Fußgänger entdeckte man Paris von oben wieder, als Autofahrer im Stau hatte man noch nie soviel Zeit, Radio zu hören. Auch technischer Fortschritt wurde erzielt: Unvergeßlich wird jener graumelierte Herr in Anzug, Krawatte und Kamelhaarmantel bleiben, der seinen motorisierten Tretroller vor einem Bürogebäude zusammenfaltete, in einer Tasche verstaute und im Eingang verschwand.
Und schließlich kam man sich auch menschlich näher. Im Bistro wurden täglich – und einvernehmlich – neue Regierungen gebildet und/oder Neuwahlen organisiert. Viele Stadtbewohner hatten Logierbesuch, Freunde und Arbeitskollegen aus der Umgebung, und nie hatte man soviel Gelegenheit, täglich neue Bekanntschaften zu schließen, und das ausgerechnet in der Isolierzelle des eigenen Fahrzeugs, die großzügig den Anhaltern offenstand.
Die Stimmung war gut, selten gereizt, in Paris beinahe gelassen, und die von der gaullistischen Regierungspartei RPR mehr oder weniger verdeckt lancierten „zornigen“ Benutzerkomitees der streikenden öffentlichen Verkehrsmittel blieben unter sich. Dies alles hat auch dem Direktor von Le Monde, Jean-Marie Colombani, so gut gefallen, daß er aus diesem wochenlangen Streik ein „neues Frankreich“ hervorgehen sah, ein erwachsenes, selbstsicheres Frankreich, das nicht um jeden Preis voraneilt.
Das sieht man bei der Rechten natürlich ganz anders. Kaum waren die ersten Metros gesichtet worden, machte der Figaro auf seiner Titelseite auch schon mit der Rechnung auf: Der Streik habe die französische Wirtschaft mindestens 6 Milliarden Franc und 100.000 Arbeitsplätze gekostet. Voilà, damit wußten die Streikenden noch vor dem Sozialgipfel Ende vergangener Woche, was sie angerichtet hatten.
Aber es stimmt, der Staatshaushalt weist zum Ende dieses Jahres eine Deckungslücke von 15 Milliarden auf, der Staatshaushalt für 1996 ist jetzt schon Makulatur. Und die Regierung unter Alain Juppé wundert sich, daß keiner das Geld, das ihm noch bleibt, zum Wohle der Volkswirtschaft ausgeben will – diese Regierung hat allerdings die Mehrwertsteuer schon im Sommer auf über 20 Prozent angehoben und will im Rahmen ihres umstrittenen und umstreikten Sanierungsprogramms für die Kranken- und Sozialversicherung die Familienzuschläge besteuern und die Rentner zur Kasse bitten. Darüber hinaus möchte sie eine Sozialabgabe zur Finanzierung der Versicherung und eine Sondersteuer zur Deckung des Defizits in ebenderselben Versicherung erheben.
Eine Politik, die eine Politik des Sozialen sein will, kostet Geld, und das hat niemand. Dementsprechend sah das Menü für den entscheidenden „sozialen Gipfel“ aus: Über Lohnerhöhungen wurde nicht gesprochen, denn das hätte die Arbeitgeber verärgern können, über die staatliche Krankenversicherung, die neben den Rentenansprüchen der Eisenbahner immerhin im Zentrum der Streiks stand, wurde auch nicht gesprochen, denn das hätte die Regierung verärgern können. Statt dessen stand die Arbeitszeitverkürzung zur Debatte, was niemanden verärgert und die eher regierungsfreundliche Vorsitzende der Gewerkschaft CFDT, Nicole Notat, sogar freut, denn das ist ihr Thema. Die beiden anderen großen Gewerkschaften, CGT und Force Ouvrière, hatten schon vor dem Gipfel mit einer Neuauflage der Streiks gedroht, falls das Treffen scheitere ...
Aber unabhängig davon, was der Gipfel nun konkret gebracht hat, eine Frage, die wesentliche Frage, die unausgesprochene Frage hatte er schon vorher beantwortet. Dieser Streik war ein Stellvertreterstreik, mit dem das zentrale Wahlversprechen des Präsidenten Jacques Chirac eingefordert wurde: Überwindung des „sozialen Risses“, der fracture sociale, in der französischen Gesellschaft mittels einer sozialen Politik für alle Franzosen. Dies erklärt die überwiegende Sympathie einer duldenden Bevölkerung mit den Streikenden. Nicht die Sanierung der maroden Krankenversicherung oder der Eisenbahn ängstigt die Franzosen, sondern eine Politik, die im Finanzministerium gemacht wird. Das ist eine Politik, die nicht viel Aufhebens um Staatsdienst und Staatsbetriebe macht und im Bedarfsfall auf die Zwänge des Weltmarktes, die Brüsseler Liberalisierungsvorschriften oder die Konvergenzkriterien für Maastricht verweist.
Dies war vielleicht, wie Le Monde vor zwei Wochen mutmaßte, die erste Revolte gegen die liberalistische Weltwirtschaft in einem reichen Land. Der Soziologe Pierre Bourdieu, der sich am 12. Dezember zu den Eisenbahnern in der Pariser Gare de Lyon begab, schmettere ein flammendes j'accuse an die Adresse der Staatseliten und ihre „technokratische Orthodoxie“ und Arroganz. Diese von Bourdieu soziologisch vermessene und politisch denunzierte „Noblesse d'état“ ist Autorin eben jener „pensée unique“, jenes wirtschaftspolitischen Einheitsdenkens, gegen das Chirac so laut zu Felde gezogen war, daß es sogar die Bonner verstörte.
Was jetzt zur Debatte steht, ist das Primat des Politischen über das Ökonomische. Politischer Voluntarismus mag eine im Ausland belächelte französische Eigenart sein, aber die Frage, ob das Gemeinwohl allein der Dynamik des Geldes überantwortet werden darf und kann, wird man sich früher oder später auch in Deutschland stellen müssen. So gesehen war der Streik ein Erfolg: Die soziale Frage steht jetzt in Frankreich auf der politischen Tagesordnung, unwiderruflich. Ihre Beantwortung könnte zu einem Modellfall für Europa werden.
Unterdessen setzten sich allerdings die europäischen Staats- und Regierungschefs auf einem ihrer routinemäßigen Gipfel in Madrid zusammen, taten, als sei in Frankreich nichts geschehen, bekräftigten ihr Rendezvous zur Einführung der Einheitswährung und bastelten – eine Banknote, den „Euro“. Ein Name, der alles sagt. Er ist die gräßliche Verstümmelung eines schönen Gedankens. Jürgen Ritte, Paris
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