Gaildorf in Aufruhr vor dem 1. Mai

■ „Verräter der Werktätigen“ Gregor Gysi soll reden – wenn er nicht Vater wird

Gaildorf (taz) – Der Ortsname hält nicht ganz, was er verspricht, und dennoch lebten die Menschen bislang gerne in Gaildorf. In dem nordwürttembergischen Städtchen ging die Sonne täglich auf und unter, und selbst honorige CDU- Mitglieder grüßten auf offener Straße die wenigen Damen und Herren der Sozialdemokratie. Ja, so war das bis vor kurzem. Bis zu diesem Zeitpunkt, als das Ortskartell des Deutschen Gewerkschaftsbundes (so was gibt's dort auch!) zusammensaß und beschloß: Zum 1. Mai muß ein Redner her, der dem „Freizeit-Image dieses Feiertages entgegenwirkt“ (der Gaildorfer DGB-Vorsitzende Günter Volz).

Gregor Gysi sollte diese Aufgabe in Gaildorf übernehmen, und zur Verwunderung aller hatte der gute Mann auch noch Zeit. Zwar hatte Gysi bereits zugesagt, am 1. Mai die Arbeiter im südhessischen Lampertheim vom Wandern abzuhalten. Aber in Lampertheim redet Gysi schon um zehn Uhr, und nach Gaildorf ist es nicht allzuweit: Also verlegten die Gaildorfer ihre Kundgebung eben auf den Nachmittag und luden wie immer alle wichtigen Menschen von Gaildorf dazu ein.

Seither weiß Günter Volz, was ein Rollback ist. Der Herr katholische Dekan legte seine Stirn in Runzeln, der Herr christdemokratische Landrat erhob mahnend den Zeigefinger, und die wenigen Sozialdemokraten machten vor Schreck in die Hose. „Gysi kommt“ – ein Ruf erschreckte Gaildorf, und vom SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Bachmaier bis zum Großgrundbesitzer Baron von Stetten, Fürsprecher aller Knechte, sagten die Honoratioren ab. Nun will gar niemand mehr zur DGB-Kundgebung nach Gaildorf gehen, weil mit dem PDS-Politiker ein Mann auftrete, der in der früheren DDR die Interessen der Werktätigen „verraten habe“. Pfui, das tut man in Gaildorf nicht, auch wenn Gregor Gysi auf dem letzten DGB-Bundeskongreß zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl und Rudolf Scharping aufgetreten ist.

In Gaildorf, wo man sich inzwischen vor dem Grüßen darüber informiert, wie das Gegenüber zu Gregor Gysi steht, wird es am 1.Mai zu ganz neuen Koalitionen kommen. So haben die Mitarbeiter des Dritte-Welt-Ladens ihr vollständiges Erscheinen angekündigt, wie ebenso die Arbeitsloseninitiative, der Jugendlub Alpha 60 oder die StadtschülerInnen-Vertretung Schwäbisch Hall.

Am 1. Mai kommt es zu ganz neuen Koalitionen

Auf der anderen Seite haben die „Republikaner“ eine Gegendemonstration angemeldet, die vom Landsratsamt bis in Rufweite der DGB-Kundgebung genehmigt wurde. So einen Feiertag hat man in Gaildorf wohl noch nicht erlebt.

Nicht viel anders wird es vier Stunden eher in Lampertheim zugehen. Auch dort haben die Vereinigten Staats- und Bedenkenträger zum Boykott der Gysi-Rede aufgerufen. Die hessische CDU- Landtagsfraktion blickt mit Sorge nach Lampertheim, wo „ein Vorgang von bundesweiter Bedeutung“ stattfinde, ausgelöst durch einen Redner, „der schwere Schuld auf sich geladen“ habe. Die Christdemokraten, die wahren Interessenvertreter der Klein- und Nichtverdiener, verlangen die „sofortige Ausladung“ des PDS-Politikers. Gysi wird dennoch kommen. Das heißt: Vielleicht wird er kommen. Nur der Himmel kann nämlich noch verhindern, daß er den Gaildorfern und den Lampertheimern die Welt erklärt. Die Geburt von Gregors erstem Kind ist für den 30. April terminiert, und Papa Gysi hat ausrichten lassen: Im Falle des Falles will er dann doch lieber bei seinen Lieben bleiben. Philipp Maußhardt