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Archiv-Artikel

GIBT ES IRGENDEINEN GRUND, NICHT IN ITALIEN ZU LEBEN? WAHRSCHEINLICH SCHON – ABER ICH WILL LIEBER EINEN ESPRESSO TRINKEN Die Toskana-Therapie

AMBROS WAIBEL

Es gehört zu den Aporien der deutschen Italienberichterstattung des letzten Jahrzehnts, dass wer hiesige Zeitungen liest, gar nicht mehr hinfahren will ins krisengeschüttelte Bel Paese – während wer dort ist, nicht weiß, wie er eigentlich jemals wieder woanders leben soll.

Nun kann man bestimmt einwenden, dass die Toskana nicht Italien ist. Man hat die drittniedrigste Armutsquote, die Arbeitslosigkeit liegt bei 8,7 Prozent, die der jungen Menschen ist zwar hoch, aber doch deutlich unter dem italienischen Durchschnitt – von Werten wie im Süden, wo 55 Prozent der jungen Frauen ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz sind, bleibt man weit entfernt.

Die Menschen sind freundlich, schön oder stattlich, sie leben in wunderschönen Häusern, gebettet in fabelhaft gepflegte Kulturlandschaften, die an wildreiche Berge grenzen, sie essen riesige Steaks, fahren große Geländewagen, gegen die man auch mal dranfahren darf, ohne dass ihre Eigner zu Kratzer-SS-Männern mutieren, sie feiern jedes Wochenende Dorffest bis Punkt Mitternacht, und um neun Uhr morgens ist der Tummelplatz schon wieder picobello aufgeräumt (unser Ferienhaus grenzte direkt an).

Kein Wunder also, dass man auf Menschen trifft, die nie fernverreisen, sondern nur zwischen ihrer Wohnung in Volterra und ihrem Haus am Meer in Cecina pendeln – wer wollte ihnen widersprechen, wenn sie meinen, auf diese Lebensweise nichts Wesentliches zu verpassen?

Sogar mit der nervenden Sexbesessenheit des Latin Lovers kann es nicht so weit her sein. Als ich in Siena am Kiosk nach der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift MicroMega fragte, in der immerhin zwei internationale Pornostars, Rocco „The Italian Stallion“ Siffredi und Valentina „The intellectual Pornstar“ Nappi, mit einer Regisseurin und einem Philosophen über ihr Business diskutieren, bekam ich nur den mitleidigen Blick, den man immer und überall bekommt, wenn man in der Provinz nach einer linken Theoriezeitschrift fragt. Das einzige Exemplar hing dann auch mit einer Wäscheklammer befestigt und schon reichlich zerfleddert an der Bude. Mehr als eines bekomme er nie von den Dingern, sagte der Kioskmann, und mehr verkaufe sich auch nicht.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU KOLUMNE@TAZ.DE

Freitag Michael Brake Kreaturen

Montag Maik Söhler Darum

Dienstag Yacinta Nandi Die gute Ausländerin

Mittwoch Matthias Lohre Konservativ

Donnerstag Margarete Stokowski Luft und Liebe

Aber warum eigentlich – lesen? Vergehen die Tage bei zahlreichen Barbesuchen auf einen Espresso oder ein Eis, dort stattfindenden kleinen Schwätzchen, bei Essenseinkäufen in unglaublich gut bestückten Hypermärkten, Essensvorbereitungen in heimeligen Küchen, Aperitifen und ausgiebigen Gelagen an Sonnenuntergang doch ohnehin wie von selbst: kein Konflikt, nirgends. Und fehlt einem das dann? Nein. Eigentlich nicht. Wenn gegen das Leben in der deutschen Provinz spricht, dass man sechs Monate im Jahr nur in den Regen oder seinen schneebedeckten Garten glotzen kann, so ist die Vorstellung, je nach Saison frische Pfirsiche, frische Feigen, frische Kastanien oder wenigstens ein frisches Wildschwein sich um die Ecke abzuholen zu können, doch schon sehr verlockend geworden. Berlin – wozu genau war das noch mal gut? Ich muss mal meine italienischen Freunde hier fragen.