GEWOHNHEITEN : Der Mann, der brüllt
In dieser Straße wohne ich schon ziemlich lange. Ein junger Hund zieht japsend und sich in seinem Halsband fast erhängend mindestens einmal am Tag einen mittelalten Mann hinter sich her, unter meinem Balkon vorbei. Die beiden erinnern mich an eine alte Frau, die vor zehn, fünfzehn Jahren, wollbemützt und immer schimpfend, von ihrem Hund durch die Straße geschleppt wurde – ob sie noch lebt? Die Blumenhändlerin unter mir, bei der sie gerne anhielt, ist jedenfalls längst gestorben, mindestens drei Unternehmen haben danach in ihrem Laden auf- und wieder zugemacht.
Den japsenden Hund von heute höre ich selbst bei geschlossenen Fenstern schon sechs, sieben Häuser weiter. Da wohnt der Mann, der aus dem Fenster brüllt. „Kioskbesitzer schlug Kunden tot“ oder „Polizei, anhalten“ oder „Machen Sie sofort ihr Licht aus“ schreit er so laut, dass man das Megafon sucht – aber sehen kann man ihn vom Bürgersteig aus nicht. Er brüllt die Fassade der Schule gegenüber an. Die Schulkinder sehe ich selten, anderer Zeittakt.
Dafür aber begegnet mir oft auf dem Weg zur S-Bahn der traurige Riese, über zwei Meter groß, mit schüchternem Gang. Ich vermute, er kommt aus den orthopädischen Praxen über dem Einkaufzentrum. An manchen Tagen sorgen die für eine hohe Dichte von Halskrausenträgern unter den Rauchern, die im Eingang der Passage zwischen den Schwingtüren stehen.
Hier hat sich seit zwei, drei Jahren ein Türaufhalter etabliert, der schon morgens früh da ist und bei den letzten Einkäufern noch immer. Manchmal ist er allein, oft bedient er Freunde aus seiner Tüte voller Flaschen, die in der Nische hinter der Tür deponiert ist. Lärm machen die eigentlich nie, obwohl die Blicke oft morgens schon etwas glasig sind. Ich wundere mich über die große Kontinuität in den Gewohnheiten der Türtrinker.
KATRIN BETTINA MÜLLER