GESICHT OHNE NAMEN : Bizarre Idee
Als ich abends die U6 an der Französischen Straße verlasse, kommt mir ein Mann entgegen, den ich kenne. Nur woher, weiß ich nicht. Mit ziemlicher Sicherheit sind wir uns noch nicht persönlich begegnet, allzu prominent scheint er mir aber auch nicht zu sein. Ein kahler Kopf mit einer runden Brille.
Ich erkenne Gesichter mit großer Zuverlässigkeit, aber manchmal fällt mir nicht die Person dazu ein. Dann grüble ich, bis ich es weiß. Ihn hier kenne ich vermutlich aus dem Fernsehen. Oder aus dem Internet? Ich denke hin und her, während ich die Baustelle Unter den Linden passiere. Sie scheinen wirklich fertig zu werden: Die Straße über der U-Bahn ist schon wieder asphaltiert. Wurde auch höchste Zeit. Anderthalb Jahre Fußmarsch, Friedrichstraße – Französische Straße, hin, zurück, hin, zurück, vorbei an den Musikern, den Stadtstreichern mit dem Plastikschweinchen, der alten Frau mit dem Kopftuch, die Plastikramsch auf einem Tuch ausbreitet und leiernde Musik aus ihrem Transistorradio hört. Sagt man das noch, Transistorradio? Ich weiß gar nicht genau, was das ist. Das Radio der Alten ist aber sicher eins, so alt, wie es ist. Nein, Unsinn.
Es ist überhaupt kein Radio. Wie könnte Musik aus einem Radio leiern? Natürlich ist es ein Kassettenrekorder. Die Parfümerie an der nördlichen Ecke der Linden hat bereits geschlossen. Zum Glück, denn hier herrscht tagsüber der scheußlichste Geruch Berlins: Parfüm, vermischt mit den Ausdünstungen einer Abwasserleitung, die vermutlich bei den Bauarbeiten beschädigt wurde. Als ich an Dussmann vorbeikomme, schaut mich der Kopf von einem Veranstaltungsplakat im Schaufenster an. Es ist Denis Scheck, der die bizarre Idee hatte, mit Schuhwichse im Gesicht die Korrektur von Kinderbüchern zu kritisieren. Gut, dass sich das Rätsel gelöst hat. Ich hätte noch tagelang über ihn nachgedacht.CLAUDIUS PRÖSSER