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Archiv-Artikel

GEORG BALTISSEN ÜBER DEN POKER UM DEN EU-KOMMISSIONSPRÄSIDENTEN Brüsseler Spitzen

Die beste Lösung wäre eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch Europas Wähler

Wenn der Europäische Rat sich an diesem Freitag auf dem EU-Gipfel in Brüssel für die Nominierung von Jean-Claude Juncker als neuen Präsidenten der EU-Kommission ausspricht, dann hat ganz besonders ein Regierungschef das Nachsehen, der bis zuletzt erbittert gegen diese Nominierung gekämpft hat. David Cameron, Premierminister von Großbritannien. Bei einer möglichen Abstimmung im Rat, die Bundeskanzlerin Merkel bis zuletzt vermeiden wollte, spränge ihm wahrscheinlich nur noch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zur Seite. Die „splendid isolation“ der britischen Insel wäre perfekt. David Cameron stünde als der ausgemachte Bösewicht und uneinsichtige Quertreiber da, der sich über Wochen der Mehrheit im Rat widersetzt und das Einvernehmen der europäischen Regierungschefs hintertrieben hat. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Zuallererst gilt einmal, dass Cameron jedes Recht hat, seine Meinung klipp und klar zu sagen. Dieses Recht hat ihm auch niemand abgesprochen. Des Weiteren gilt, dass Cameron nie für Juncker als Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP) votiert hat, weil seine Tories dieser Fraktion gar nicht angehören. Er hat von Anfang an klar gesagt, dass er – im Gegenteil – alles tun werde, um Juncker zu verhindern, weil er sonst in seinem Lande wie ein begossener Pudel dastehen würde.

Jean-Claude Juncker ist in den Augen des Briten nicht geeignet, die institutionellen Veränderungen in die Wege zu leiten, die es Cameron erlauben würden, in Großbritannien bei einem Referendum über den Verbleib des Landes in der EU zu bestehen. Solche Reformen sind aber für Cameron auch innenpolitisch zwingend, um bei einem Referendum gegenüber den antieuropäischen Wahlsiegern der Ukip sowie der europafeindlichen Kombattanten in den eigenen Reihen die Oberhand zu behalten. Und dieses Referendum will er ja spätestens nach einem neuerlichen Wahlsieg der Tories im Jahre 2017 abhalten.

In der Debatte um die Nominierung des EU-Kommissionschefs hat der Brite Cameron noch in einem anderen Punkt die Statuten auf seiner Seite. Es gibt keine einzige Erklärung in einem Vertrag, die besagt, dass ein Spitzenkandidat, wie er von den Parteien nominiert wurde, auch neuer EU-Kommissionspräsident werden müsste. Dies ist zwar ein Ansinnen, das das EU-Parlament mehrfach lanciert hat, eine juristische Grundlage dafür fehlt jedoch. Von daher kann man die Forderung, dass nur einer der Spitzenkandidaten auch EU-Kommissionspräsident werden kann, durchaus als Usurpation von Macht lesen, die dem Parlament nicht zukommt.

Die Verträge besagen zwar, dass das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten bestätigen respektive wählen muss. Aber die Verträge verlangen ebenso eindeutig, dass der Vorschlag hierfür vom Europäischen Rat, also den Regierungschefs, mit qualifizierter Mehrheit getroffen wird. Die Regierungschefs sollen dabei die Ergebnisse der Europawahl „berücksichtigen“ – ein interpretierbarer Begriff.

Als gewählte Vertreter ihrer Staaten können sich die Regierungschefs auf eine mindestens ähnliche demokratische Legitimierung berufen wie die gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Gerne wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die Wahlbeteiligung bei Nationalwahlen deutlich höher ausfalle als bei der Europawahl.

Die Stilisierung, dass es bei der Nominierung und Wahl von Juncker quasi um einen Reinheitstest der europäischen Demokratie ginge, ist schlicht irreführend und falsch. In den meisten europäischen Staaten ist überdies die Mär vom demokratischen Zweikampf des konservativen Juncker gegen den Sozialisten Martin Schulz auf gesamteuropäischer Ebene gar nicht oder nur höchst beiläufig registriert worden. Von den anderen Spitzenkandidaten einmal ganz abgesehen.

Man kann dennoch der Meinung sein, dass das Demokratieargument nicht irrelevant ist. In der Konsequenz hieße das, dass nicht der Europäische Rat, sondern das Parlament der Ort wäre, an dem über zentrale Personalien der europäischen Politik entschieden werden sollte. In diesem Sinne wäre die beste Lösung eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Wähler. Das hätte den Vorteil, das die Menschen mit ihrem Votum eine tatsächlich relevante Entscheidung treffen könnten.