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GEN NORDEN – GEN WESTENEin Rotarmist kehrt zurück

Bis spätestens 1994 werden 380.000 sowjetische Soldaten Deutschland verlassen, mit ihren Familien eine Million Menschen. Ihre Zukunft ist ungewiß: Es fehlen Wohnungen, Arbeitsplätze für die Frauen und Kinderkrippen. Ihre Landsleute, mit denen sie jetzt in Konkurrenz treten, begegnen ihnen mit Feindseligkeit. Ein Offizier, der anonym bleiben will, schildert seine Rückkehr, aufgezeichnet  ■ VON ALEXANDER BANGERSKI

Ich heiße Sergej T. Ich bin Hauptmann in der sowjetischen Armee. Ich bin gerade aus Deutschland zurückgekommen, wo ich zwei Jahre lang war. Man kann schon sagen, daß Deutschland für einen sowjetischen Offizier ein guter Stationierungsort ist, sowohl wegen der Besoldung als auch wegen der damit verbundenen Vorteile. Ein Offizier verdient heute zwischen 800 DM monatlich als Leutnant und bis zu 1.600 DM monatlich als Oberst. Ein Offizier verdient in Deutschland achtmal soviel wie in der UdSSR. Der Sold in der UdSSR reicht jedenfalls gerade für Essen und Kleidung. Man kann einfach nichts sparen, um Konsumgüter zu kaufen. In zwei Jahren Deutschland konnte ich mir ein Auto, Möbel und elektrische Haushaltsgeräte kaufen. Ich konnte sogar Geld sparen, um eine Datscha zu kaufen. Wie ich das geschafft habe? Das war ganz einfach. Ich habe in der DDR mit Ost-Mark Konsumgüter gekauft, die ich während meines Urlaubs in der UdSSR verkauft habe. Dann habe ich die Rubel, die ich dafür bekommen habe, in Dollar getauscht, und damit konnte ich in Deutschland kaufen, was ich wollte. Nach der deutschen Wiedervereinigung war die Situation noch günstiger, weil wir unseren Sold direkt in Deutscher Mark ausbezahlt bekamen.

Jeder Offizier hat das Recht, einen Container von fünf Tonnen in die UdSSR mitzunehmen, dessen Transport von der Armee bezahlt wird. Dieser Container enthält alle möglichen Waren. Für die Abfahrt gilt die einfache Regel: Kein Offizier weiß, zu welchem Zeitpunkt er Deutschland verlassen muß. Das Resultat ist, daß jeder zu intrigieren versucht, um zu denen zu gehören, die als letzte abreisen, und daß es ständig Gerüchte über das Abreisedatum für diese oder jene Einheit gibt. Meine persönliche Abreise ist ziemlich gut gegangen, aber ich bin eine Ausnahme. Ich hatte das Glück, kurz vor meiner endgültigen Abreise aus Deutschland während des Urlaubs in die Sowjetunion zurückzukehren. Ich habe diese Gelegenheit benutzt, um einen großen Teil der Dinge mitzunehmen, die ich gekauft hatte. Bei der Rückreise hatte ich daher nur wenig Gepäck und konnte mit meiner Frau und meinen Kindern in einem Personenzug fahren. Wie viele Offiziere, die aus Deutschland zurückkommen, hatte ich zwei Abteile reserviert, eins für meine Familie und das andere für den Rest meines Gepäcks.

Meine Reise war ein Glücksfall, weil ich viele Offiziere kenne, die nicht in Personenwagen, sondern in Güterwagen ohne jeden Komfort in die UdSSR zurückgekehrt sind. Manchmal waren sogar ihre Familien dabei. Warum sie so gereist sind? Weil sie ihre persönlichen Container bewachen wollten, die in diesen Güterwagen transportiert werden. So konnten sie sicher sein, daß ihr Besitz nicht gestohlen oder beschädigt wurde. Diese Güterzüge müssen nämlich manchmal tagelang auf den Gleisen warten, ehe sie ihren Bestimmungsort erreichen. Und während dieser Wartezeit werden die Container von Dieben heimgesucht, die alle Wertgegenstände wegnehmen. Bei der Ankunft von Zügen aus Osteuropa vergnügen sich die Frachtarbeiter daran, die als zerbrechlich gekennzeichneten Frachtstücke, wie Fernseher und Hifi-Geräte, hin- und herzuwerfen. Das ist ihre Art der „Rache an diesen Privilegierten“ , die aus dem Westen kommen.

Nach einer relativ bequemen Reise bin ich also in Moskau am Beloroski-Bahnhof angekommen, bevor ich einen neuen Stationierungsort angewiesen bekam. Der Beloroski-Bahnhof ist einer der neun Bahnhöfe von Moskau. Dort verkehren vor allem die Züge aus Polen und Deutschland. Meine erste Reaktion war ein Erstaunen über den Verfall der Stadt seit ich vor zwei Jahren weggegangen war. Alles schien im Zeitraffer gealtert zu sein. Zum Beispiel unbefahrbare Straßen – so etwas gab es vor ein paar Jahren noch nicht. Keiner der in Deutschland stationierten Offiziere wollte zurück. Wir wußten nicht nur, daß wir dadurch finanzielle Verluste haben würden, sondern uns war auch bewußt, daß alle „guten Posten“ in der UdSSR schon besetzt waren und daß unsere „Wiedereingliederung“ schwierig sein würde.

Die Familien von Militärs haben tatsächlich in allen Bereichen schwere Probleme: keine Arbeit für die Frauen von Offizieren, keine Wohnung, keine Kinderkrippen, keine Kaufhäuser... Man muß sich nicht darüber wundern, wenn unter diesen Umständen die jungen Offiziere dutzendweise ihren Abschied einreichen. Und das ist erst der Anfang! Bis 1994 müssen 380.000 Soldaten aus Deutschland zurückkommen. Wenn man ihre Familien mitzählt, werden das ungefähr eine Million Menschen sein. Die Mehrheit davon wird dazu verurteilt sein, in Baracken zu leben, der Feindseligkeit der örtlichen Bevölkerung ausgesetzt, die die Ankunft der „Deutschen“ mit ansieht, wo doch die Läden schon leer sind. Und zu diesen „Deutschen“ kommen noch die Familien von Offizieren hinzu, die aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn oder Polen heimkehren.

Die Geschichte unserer Nation und ihrer Armee gibt Anlaß zu Optimismus. Als die russischen und später die sowjetischen Truppen aus dem Westen heimgekehrt sind, ob nun 1815, 1917 oder 1945, haben sie immer den Wind der Freiheit mitgebracht, die Berichte über den Wohlstand der Länder, in denen sie gewesen waren, den Wunsch nach Veränderung. Ich hoffe, daß die Rückkehr von Hunderttausenden jungen Soldaten und Offizieren, die mit eigenen Augen den Sturz der kommunistischen Regime in Osteuropa gesehen haben, die Situation in unserem Land radikal verändern wird.

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