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Archiv-Artikel

GEHT’S NOCH? Auf der Jagd

Nach dem Tod Robert Enkes wollte die „Bild“ humaner berichten – das haben nicht alle mitbekommen

Vielleicht mal lieber die Note fünf statt einer sechs geben. So hatten die Verantwortlichen der Sportseiten bei der Bild nach dem Suizid von Robert Enke gesprochen. Das sollte wohl bedeuten, dass man auch mal ein bisschen nachsichtiger sein könnte – wenn man es denn wollte. Die Aussagen sind mehr als drei Jahre alt. Und heute zeigt sich: Die Bild will es nicht.

Nach dem Tor von Leverkusens Stefan Kießling, das eigentlich keines war, weil der Ball durchs Außennetz ins Innere des Gehäuses geflutscht war, twitterte der stellvertretende Chefredakteur der Zeitung, Alfred Draxler, umgehend: „Wer sperrt den Schiri?“

Die Jagd auf den Schiedsrichter Felix Brych war damit eröffnet.

Und Draxler schlug weiter um sich: „Was sagt jetzt Stefan Kießling? Charakter-Test!!!!!!!“ Ja, er hat tatsächlich sieben Ausrufezeichen dahinter gemacht. Also standen ab sofort gleich zwei am Pranger: Brych und Kießling.

Bild-Urgestein Franz-Josef Wagner hatte schon 2010, als sich Enkes Tod zum ersten Mal jährte, in seiner „Post von Wagner“-Kolumne konsterniert festgestellt: Damals „wollten wir alle, dass wir bessere, sensiblere Menschen werden. Wir wurden es nicht.“ Hätte Wagner seine Post nur mal direkt an Draxler adressiert.

Auch nach dem Suizidversuch des Schiedsrichters Babak Rafati im Jahr 2011 zeigte sich die Bild besorgt – und fragte scheinheilig: „Wie krank macht die Bundesliga?“ Sich selbst hat die mächtige Boulevardzeitung dabei natürlich nicht ins Visier genommen. Aber sie ließ Experten zu Wort kommen, die von „gewaltigem Druck“ sprachen, unter dem Schiedsrichter heutzutage stünden. Draxler hat auch das wohl nicht gelesen.

So ist der stellvertretende Chefredakteur nach dem „Phantomtor“ beim eigenen Charaktertest, wie viel er wirklich aus Enkes Tod und dem Suizidversuch von Rafati gelernt hat, durchgefallen. Note sechs.

Na gut, am Donnerstag kürte das Blatt Felix Brych auf der Seite eins zum „Gewinner der Tages“, der hatte zwei Tage zuvor das Champions-League-Spiel zwischen Milan und dem FC Barcelona hervorragend geleitet.

So schnelle Einsicht bei der Bild? Dann wollen wir mal ein bisschen Nachsicht üben: Note fünf im Charaktertest. JÜRN KRUSE