GASTKOMMENTAR: Wer hat die krummste Nase?
■ Melancholische Betrachtung anhand eines Formblatts
Der Innensenator Berlins will es ganz genau wissen. Wenn Sie Asylberechtigter, Staatenloser oder Kontingentflüchtling (zum Beispiel jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion) sind und einen Fremdenpaß oder einen Kinderausweis beantragen, müssen Sie zusätzlich zu den üblichen Daten laut Formblatt Fragen nach Ihrer Hautfarbe, Haarfarbe, Nasen- und Gesichtsform beantworten. Bei deutschen Staatsbürgern, die einen Antrag auf einen Reisepaß stellen, genügt dagegen die Angabe von Körpergröße und Augenfarbe.
Daß dieses Formular seit Jahren (gemäß Paragraph 4 des Paßgesetzes vom 19.4.1986) ausgeteilt wird, ohne daß eine der BeamtInnen mit der Wimper zuckte, macht deutlich, wie weit es 45 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches gelungen ist, die verantwortlichen Stellen und Personen für rassistische Untertöne und Reminiszenzen zu sensibilisieren.
Drängt sich da nicht die Frage nach einer Geistesverwandtschaft auf zwischen den Sammlern am Schreibtisch, deren Muster sich an „Erkenntnissen“ von Rassentheorien orientiert, und den Schlägern auf der Straße, die über Leben und Tod von Menschen anhand von Hautfarbe und Herkunft entscheiden? Nicht jedem wird es leicht fallen, die Form der eigenen Nase und des Gesichts sofort sprachlich zu erfassen. Gibt es da womöglich Listen, die den Wortschatz und die Kategorien von rassistischen Theorien für die deutsche Bürokratie fruchtbar machen?
Man stelle sich vor, der Beamte hinter seinem Schreibtisch ist Ihnen beim Ausfüllen des Formulars behilflich. Nasenform: krumm. Gesichtsform: oval. Vielleicht werden durch immer mehr Merkmale letztlich die komplizierten und unaussprechlichen ausländischen Namen überflüssig, die Fremden werden zu No-name-Menschen, erkennbar an der Länge ihres Gliedes, am Volumen ihres Bauchnabels. Nicht durch Sonntagsreden und selbstgerechte Beteuerungen wird ein Land ausländerfreundlich, sondern durch die Abschaffung solcher Formulare und vor allem durch die Veränderung des Denkens, das dahintersteht. In Deutschland, wo immer noch die Blutsbande über die Staatsangehörigkeit entscheiden, eine Utopie? Zafer Senocak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen