GASTKOMMENTAR: Zweite Abwicklung
■ In Berlin tagte der Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften
Der Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften hat die Pädagogik der ehemaligen DDR durch Nichtbeachtung noch einmal abgewickelt. WissenschaftlerInnen mit DDR-Biographien waren unter den Vortragenden kaum zu finden. In den zwölf Symposien kamen von den fast hundert Referierenden nur zwei aus der ehemaligen DDR. Kein Symposion war der Aufarbeitung oder den immensen Umbauschwierigkeiten des dortigen Bildungssystems gewidmet.
Viele, vermutlich die meisten, DDR-ErziehungswissenschaftlerInnen haben die Vorgaben von Staat und Partei affirmativ umgesetzt und legitimiert. Viele haben zudem die Erziehungswirklichkeit wider besseres Wissen beschönigt. Es gab aber auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die unter widrigen Umständen mit ihrer Lehre und Forschung Grenzverschiebungen vornahmen und nach der Maueröffnung mit Elan und Kompetenz das Bildungssystem in den neuen Bundesländern zu demokratisieren versuchten.
Es wäre die Aufgabe der Kongreß-Veranstalter gewesen, diese Kollegen, gerade auch jüngere, weniger bekannte, zu suchen und sie zu ermutigen, vorzutragen. Bekanntlich sind solche Kongresse auch Börsen für Arbeitskontakte und Arbeitsplätze. Die erziehungswissenschaftlichen Stellen in den Hochschulen der neuen Bundesländer werden nach der flächendeckenden Abwicklung nun neu ausgeschrieben. Der Kongreß hat das schnelle Urteil, es gebe keine ernstzunehmenden WissenschaftlerInnen mit DDR-Biographien, durch die Ausgrenzung derselben verstärkt. Eine Übernahme der Fakultäten durch Westwissenschaftler erscheint dann konsequent und legitim!
Die Studierenden, die sich als Kinder und Jugendliche im DDR-Erziehungssystem bewegt haben, müssen sich aber mit Dozenten auseinandersetzen können, die lebensgeschichtlich und wissenschaftsgeschichtlich über Inhalt und Funktion der Erziehungswissenschaft in der DDR Auskunft geben können und wollen. West-Dozenten können diese Rolle prinzipiell nicht übernehmen. Eine einfach von West nach Ost transferierte Erziehungswissenschaft kann zudem die soziale Wirklichkeit dort kaum erfassen. Sie bleibt ohne die Zusammenarbeit mit Ost-KollegInnen inkompetent.
Der Kongreß hat die Abwicklungsentscheidung der Landesregierungen aus freien Stücken bestätigt und verfestigt. Er hat damit gezeigt, zu welchen Anpassungsleistungen an staatliche Vorgaben die westdeutsche Erziehungswissenschaft fähig ist. Die Begründung einer solchen Akzeptanz und die möglichen Gegenreden hätten zumindest den Kongreß durchziehen müssen. Hilde Schramm
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