G20-Proteste in London: Revoluzzer ohne Richtung
Die Demonstranten bei den G 20-Protesten in London sind schwer zu fassen. Es protestieren Klimaschützer wie auch gewaltbereite Jugendliche: Der Bewegung fehlt ein Slogan.
LONDON taz "Die Medien berichten fast ausschließlich über Gewalt. Sie ignorieren die friedlichen Demonstranten. Und sie berichten nicht über deren Anliegen." Der Vorwurf von Terina Hine ist nicht neu - und nicht unberechtigt. Die dreifache Mutter ist Mitglied in einem "Bündnis gegen den Krieg", das für den Abzug ausländischer Truppen aus dem Irak und für ein freies Palästina streitet. Wenn sie jetzt entscheiden könnte, wie die Berichterstattung über ihren Protest vor der weiträumigen Polizeiabsperrung des Excel-Centers in London aussehen sollte: Was würde sie sich wünschen? "Es muss darüber berichtet werden, dass die westlichen Regierungen Israel unterstützen, auch mit Waffen." Darüber wird berichtet. "Ja, aber es muss außerdem geschrieben werden, dass die Regierungen die Protestbewegung nicht anhören." Auch das ist kein Geheimnis.
Die Anliegen der Demonstranten sind bei diesem Gipfel schwer umfassend zu beschreiben. Was verbindet die äthiopischen Somalis, die für die Befreiung des Ogaden kämpfen, mit den Teilnehmern eines Klima-Camps, die auf die Gefahren der globalen Erwärmung hinweisen wollen? Was verbindet beide Gruppen mit dem alten Mann aus Cornwall, der gewalttätige Jugendliche in Arbeitslager stecken möchte und den sofortigen Austritt Großbritanniens aus der EU fordert? Einig sind sich alle Demonstranten nur darin, dass Regierungen dramatische Fehlentscheidungen getroffen haben. Aber wie der richtige Kurs aussehen sollte, darüber gehen auch auf der Straße die Meinungen weit auseinander.
Es fehlt der Protestbewegung hier an einem gemeinsamen, zündenden Slogan. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sich deutlich weniger Demonstranten vor dem Excel-Center eingefunden haben, als erwartet worden waren. Um die Mittagszeit sind gerade mal ein paar hundert gekommen - und fast ebenso viele Journalisten. Die Polizei ist nicht in Kampfmontur aufmarschiert und gibt sich entspannt. Die demonstrative Freundlichkeit kann allerdings nicht über die Nervosität der Behörden im Vorfeld des Gipfels hinwegtäuschen. Sicherheit mit etwa 4.700 Polizisten hat Priorität, notfalls auch um den Preis einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. An der Universität von East London wurde kurzfristig ein "alternativer Gipfel" verboten. Der Campus ist kurzerhand für zwei Tage geschlossen worden.
Nicht alle Demonstranten wollten sich das gefallen lassen: Etwa einhundert versammelten sich am Mittwoch unter freiem Himmel auf dem Universitätsgelände, um gegen globale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung zu protestieren. "Ist dies die einzige Veranstaltung, die heute auf dem Campus stattfindet?". Der Ordner im leuchtend grünen Anorak schaut starr an der Fragestellerin vorbei. "Diese Veranstaltung findet nicht statt." Wie bitte? "Sie findet nicht statt. Die Universität hat damit nichts zu tun."
Professor Chris Knight, einer der Organisatoren, sieht das ganz anders: "Wir haben heute die samtene Revolution gewonnen, moralisch jedenfalls. Weil wir uns hier trotz allem friedlich versammeln." Der 66-jährige Anthropologe ist vor wenigen Tagen wegen angeblicher Aufrufe zur Gewalt von seinem Posten suspendiert worden.
Was ist Gewalt und wer übt sie aus? "Jetzt haben wir einen Märtyrer", sagt Dokumentarfilmer Bill Maloney auf dem Weg zur Protestkundgebung am Excel-Center. Er bezieht sich auf einen Mann, der am Vortag unter noch ungeklärten Umständen während einer Protestkundgebung gestorben ist. Nach bisherigen Informationen lag er bewusstlos am Straßenrand, Wiederbelebungsversuche der Polizei waren vergeblich. Ein Märtyrer? Es sind nicht nur die Medien, die sich auf das Thema Gewalt konzentrieren.
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