Fußballfans entern englische Facebookseite: Schlachtrufe auf der Pinnwand
Eine altbekannte Feindschaft zwischen Deutschland und England wird im Netz wiederbelebt. Gleichzeitig wird offenbart, wie rückständig der DFB sich in sozialen Medien bewegt.
In Zeiten von Onlinedemos und Shitstorms werden keine Tribünen mehr gestürmt, nur noch Pinnwände. Eine simple Meldung der Bild, dass die deutsche Nationalmannschaft jetzt mehr Fans auf Facebook habe als die englische, hat ausgereicht, um hunderte DFB-Anhänger auf die Seite der Three Lions zu spülen. Genüsslich erinnerten die Kommentare an die vergangenen Niederlagen der englischen Auswahl, insbesondere das in England düster aufgenommene 4:1 im Achtelfinale 2010.
Zwischendrin tönte immer wieder der Schlachtruf "GERMANY!", völlig unbehelligt von englischen Moderatoren, über Tage ging das so. Die Bild feierte bereits den ersten Europameisterschaftstitel für die Nationalmannschaft. Nennenswert englische Fans, die sich zur Wehr setzen, gab es nicht, und weil die offizielle englische Fanseite offenbar so gut aufgestellt ist wie ihre Innenverteidigung, verweigerte sie sich dem Zweikampf und sperrte kurzerhand ihre Seite für deutsche Besucher.
Was sich im ersten Moment wie eine nebensächliche Posse anhört, illustriert auf den zweiten Blick ganz gut den Bedeutungswandel der neuen Medien im deutschen Fußball. In anderen Bereichen gilt Facebook schon längst als Metapher für Relevanz. In der Bundesliga haben die Verantwortlichen diesen Trend komplett verschlafen: man widmete sich lieber der Pflege der eigenen Homepage. Erst im Jahr 2010 orientierte man sich Richtung Netz 2.0, selbst im August 2011 hatte Schalke 04 noch keine offizielle Facebook-Fanpage. Es hat also sehr lange gedauert, bis die Verantwortlichen Social Media als Möglichkeit, Sympathisanten überall auf der Welt zu erreichen, erkannt haben.
So kommt es, dass der beliebteste deutsche Nationalspieler Mesut Özil über eine Million mehr Likes gesammelt hat als der deutsche Rekordmeister Bayern München, der 2,7 Millionen Fans auf sich vereint. Damit ist man weit entfernt von der europäischen Spitze. Real Madrid, der FC Barcelona und Manchester United haben jeweils schon über 20 Millionen Fans.
Aber man holt auf in München und dem Rest der Republik, man hat die Zeichen der Zeit erkannt. Keinen Augenblick zu früh allerdings, das nächste große Ding ist schon am Drehen: Es geht um die Videovermarktung der Vereine im Netz.
Netz vor TV
Sämtliche großen Vereine produzieren Hintergrundberichte, Interviews und sonstige Features, Manchester City verhandelt gerade mit Youtube über die Übertragungsrechte seiner Freundschaftsspiele, und jetzt hat das Kartellamt der DFL erlaubt, die Höhepunkte eines Spieltages zuerst im Netz zu zeigen, während Fernsehübertragungen dann erst ab 21.45 Uhr möglich werden. Yahoo und Vodafone haben Interesse angemeldet, die Netzrechte zu erwerben: sollten sie aus dem Wettbieten als Sieger hervorgehen, ist die Sportschau Geschichte.
Überhaupt kommen interessante Jahre auf den Fernsehjournalismus zu. Schon jetzt beklagen sich Kollegen, dass sie wegen live gestreamter Pressekonferenzen und anderer Echtzeit-Berichterstattung ihren Informationsvorsprung verlieren. Den brauchen sie aber, denn ihre anderen Fähigkeiten, wie Begeisterung zu transportieren oder Nähe zu suggerieren, kurzum: Entertainment zu machen, beherrschen andere in aller Regel besser. Man muss nur Boris Becker als Field Reporter gesehen haben, um sich der ganzen Misere bewusst zu werden.
Nicht mehr nur Abbild
Der Schwenk des deutschen Fußball ins Netz, so er denn die nächste Hürde nimmt, wird dem jetzigen Berichterstatterwesen zwar hart zusetzen, ist aber im Endeffekt eine große Chance: weil Geld und Sendezeit frei werden, um damit den Fußball nicht mehr einfach abzubilden, sondern mit kritischen Analysen zu begleiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren