Für verletzte Vögel fährt Susanne Messmer meilenweit: Es ist ein Star, sie holen ihn raus
Der Siebenjährige platzt mit roten Wangen ins Zimmer: „Komm! Bitte! Sofort!“ Unter der Tanne sitzt ein verletzter Vogel, der Sohn hat ihn einer Nachbarskatze abgejagt. Ich krieche mit der Zwölfjährigen unterm Baum herum, und es stellt sich nicht nur heraus, dass es ein Star ist, der da überlebt hat, sondern auch, dass er nicht mehr fliegen, aber ziemlich schnell hüpfen kann. Leider fällt er dabei immer wieder um, sodass wir ihn irgendwann vorsichtig greifen können.
Im Kopf Erinnerungsfetzen: Der erste Kater der Kindheit schleppte täglich Beute an. Alles, was noch lebte, wurde gerettet. Einmal brachen die Mehlwürmer für einen angeschlagenen Sperling aus. Eine gar nicht mehr angeschlagene Maus nagte ein Loch in die Kiste und lebte fortan im Keller. Irgendwann die resignierte, unfassbar brutale Ansage der Eltern: Lass die Katze tun, was zu tun ist, wir schaffen es nicht mehr. Fressen und Gefressenwerden.
Unser Star sitzt in seinem Karton, seine Federn schimmern metallisch grün und purpur, er legt den Kopf schief, will die Würmer, die ihm die Kinder aus der Erde ziehen, nicht fressen, und blutet ein wenig. Es ist Sonntag, in den Tierarztpraxen geht keiner ans Telefon. Irgendwann ruft ein netter Nabu-Mitarbeiter zurück und erklärt, es sei eilig: Katzenbisse erfordern schnelle Antibiotikagabe. Die einzige Stelle, wo wir den Star abgeben könnten, ist die FU-Kleintierklinik in Dahlem. Das sind 43 Kilometer: Wir wohnen hinter der nördlichen Stadtgrenze.
Wir mögen Stare. Der Star ist nach dem Spatz zweithäufigster Vogel der Welt, trotzdem ist sein Bestand gefährdet. Stare werden bis zu 20 Jahre alt, manchmal tun sich eine Million Vögel zum Schwarm zusammen. Vor allem aber beherrscht der Star die Kunst des geschwätzigen Verspottens. Er ahmt nicht nur den Ruf des Mäusebussards nach, sondern auch Hundegebell oder Rasenmäher. Am Bahnhof Alexanderplatz fressen Stare Fahrgästen aus der Hand.
Die Tochter und der Sohn, die sich seit einiger Zeit als Flexitarier bezeichnen, setzen sich durch. Vor der Klinik steht ein älteres Paar mit einem verlorenen Entenküken und eine Frau in hohen Pumps mit einem Mauersegler, der sich den Flügel gebrochen hat. Nach einer Weile die Diagnose: Der Torso unseres Stars sei durchbissen, aber er habe Überlebenschancen. Ende der Woche rufen wir an und fragen, wie es ihm geht.
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