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Archiv-Artikel

Fünfmal SprengstoffDer Weihnachtsbaumständer

STREITGEGENSTAND Manchmal haben kleine Dinge eine viel zu große Wirkung. Wie kommt das bloß immer? Fünf sonntaz-AutorInnen erinnern sich

Der Weihnachtsbaumständer war ein klappriges Gestell, dürr und widerspenstig wie eine alte Bergziege. Der Baum sah anfangs gar nicht gemein aus. Immer am Vormittag des 24. Dezember wuchteten wir ihn über die Terrasse nach drinnen. Während es dabei piekste und nadelte und zwickte, konnte die Neigung entstehen, das Pieksen nicht dem Baum anzulasten, sondern der Person, die dieses Nadelgestrüpp gerade in eine so ungünstige Position gebracht hatte. Dann begann sie: die Justierung. Meine Mutter und ich, wir hielten den Stamm. Mein Vater lag unter den Nadeln. Er kämpfte mit dem Weihnachtsbaumständer. Der Ständer hatte Schraubzwingen, um den Stamm zu fixieren, aber die Klapprigkeit des Apparats machte eine zusätzliche Stabilisierung mit winzigen Holzscheiten nötig. Mein Vater verschob die Scheite, zog zu, wieder auf, wieder zu, neuer Scheit. Spätestens wenn sich der Baum beim vierten Versuch trotz kampfesmüden Knicks in der Optik inakzeptabel neigte, begann sich die Wut, statt auf den Drecksständer, auf uns, die Halter, zu richten. Und weil wir die Nadelstiche kaum noch ertrugen, entluden sich die ersten Weihnachtsstimmungsexplosionen. Schreierei. Bis der Baum, ein Wunder, schließlich doch stand. Vielleicht nicht gerade gerade, aber doch irgendwie aufrecht. Seit einigen Jahren haben wir einen neuen Ständer. Weihnachten beginnt seitdem deutlich weihnachtlicher.

JOHANNES GERNERT

Das Parfüm

Der Zweifel kam knisternd. Ich packte das Weihnachtsgeschenk meiner Tante aus und erkannte sofort, was es in diesem Jahr war: ein teures Parfüm. Mein Parfüm, das ich seit Jahren benutzte, Kopfnote Fresie, Herznote Lilie, Basisnote Zeder – 90 Euro für 100 Milliliter. Wie aufmerksam! Freu. Aber irgendetwas stimmte damit nicht. Der Zweifel nagte noch ein wenig an mir, dann hatte ich’s: Der Flakon war nicht originalverpackt. Und nicht nur das: Von den 100 Millilitern waren geschätzte 20 Milliliter verduftet. Zugegeben, ich musste vor Enttäuschung weinen. Blöd, oder? Total unangemessen jedenfalls. Schließlich war das Parfüm ja nicht schlecht, meine Tante hatte nachhaltig gehandelt, als sie den Duft im Wert von immer noch 72 Euro in Knisterfolie gepackt hatte. Also kam ich zu Vernunft, stellte den Flakon ins Badezimmerschränkchen. Und benutzte ihn nie. Im Gegenteil, gleich im neuen Jahr kaufte ich mir meinen Duft – Kopfnote Fresie, Herznote Lilie, Basisnote Zeder – für 100 Euro, originalverpackt, versteht sich. Mit meiner Tante sprach ich nicht über die Angelegenheit. Auch blöd. Ich wollte keinen Ärger mit ihr, wozu auch? Aber zugegeben, als sie im März Geburtstag hatte, tat es auch ein Buch, das ich zu Weihnachten bekommen hatte und das ich nach fünfzig Seiten aufgehört hatte zu lesen. Geschenke-Recycling ist reine Nachhaltigkeit. Der Inhalt war ja immer noch der gleiche – und es fehlten nicht mal Buchstaben.

ANJA MAIER

Die Blockflöte

Dass es bei uns zu Hause an Weihnachten regelmäßig Streit gab, lag an der verdammten Flöte. Eine sehr schöne Altblockflöte aus kostbarem Palisanderholz mit einem weichen, vollen Klang. Jedes Jahr sollte ich unter dem Weihnachtsbaum ein Konzert geben, mit meinem Vater an der Gitarre, Mutter war wegen Unmusikalität fein raus. Wenige Wochen vor Heiligabend begannen unsere sporadischen Proben, die meist mit Krach endeten. Mein Vater ist nämlich nicht nur musikalisch, sondern auch ein Perfektionist. Kurz vor Weihnachten hatte ich meistens keinen Bock mehr. Nicht auf ein Solo unter seinen kritischen Augen. Und schon gar nicht auf ein Duett. Doch es half nichts. Meine Mutter behauptete stets, unsere Musiziererei sei für sie der Höhepunkt des Weihnachtsabends. Es war immer dasselbe: Die Kerzen am Baum brannten, meine Mutter nahm erwartungsvoll auf dem Sofa Platz. Schon nach dem ersten Lied begann das Patzen, Zanken, Neuanfangen. Meist schrie ich irgendwann, mein Vater solle doch allein weiterspielen, wenn er alles besser könne. Noch heute sind an der Wohnzimmertür die Spuren meines Wutausbruchs zu erkennen, unter dem der Türstock splitterte. Ein paar Jahre klimperte mein Vater noch allein, dann war Schluss mit Hausmusik. Seitdem laufen professionelle Klassik-CDs. Meine Mutter brachte mir die Flöte nach der Geburt meiner Tochter nach Berlin. Vielleicht spielt sie mal drauf. NINA APIN

Die Tanzschuhe

Meine Freundin hatte ihre ausgeleierten schwarzen Tanzschuhe vor die Tür meines Zimmers in meiner Fünf-Frauen-WG gestellt. Jede, die im Flur vorbei kam, sah sie und das war dem Haussegen ziemlich abträglich. Es herrschten strenge Ordnungsregeln. Verlangt wurde Unterwerfung unter das Prinzip des samstäglichen Reinemachens, was nicht allen Bewohnerinnen behagte. Insbesondere nicht mir. Hauptsache putzen, egal wann. „Hat sie wieder ihre ollen Schlappen rumstehen lassen“, schimpfte nun die Frau, die alles nach Plan tat, im Flur. Ohne zu wissen, dass ich derweil mit der Tänzerin im Dunkeln meines Zimmers Kussübungen vollführte. Ich hörte, wie sie die Tanzschuhe ins Schuhregal schleudert, die Schuhe, in denen noch kurz zuvor die zarten Füße der Tänzerin steckten. Eine Kriegserklärung. Es wurde ein zäher Kampf, mit Vier-zu-eins-Sitzungen und mit Wann-ziehst-du-endlich-aus? Ich ging am Vorabend des 24. Dezember. Da musste ich mit anhören, dass die Wortführerin der WG-Allianz an Weihnachten nicht mit mir zusammen an einem Tisch sitzen will. Ich käme sowieso immer eine halbe Stunde zu spät, würde herumnörgeln, meine Tischmanieren seien auch nicht, was sie sein sollten. Ich rauschte in die Küche, schrie: „Sagt mal, könnt ihr nicht flüstern, wenn ihr über mich herzieht!“ Nein, konnten sie nicht. Es war mein letztes Gefecht. Die Tänzerin gewährte mir Zuflucht.

WALTRAUD SCHWAB

Die Weltkriegsmedaille

„Mein Enkel, es ist Zeit, dir das Familienerbe zu übergeben“, begann das Gespräch mit Opa. Opa ist saualt, sächselt und ist ein netter Kauz, auch wenn er die Bild liest und gerne von der Ostfront erzählt. Nun also das Erbe: Er drückt mir eine goldene Taschenuhr in die Hand und verharrt kurz andächtig. Ich sehe mich, wie ich sie mit gleicher Pose dereinst in die jungen Hände meiner Nachfahren legen werde. Es folgt eine blaue Schatulle. Ein Diamant? Ich klappe sie auf: ein Orden, gebettet in blauen Samt. Das sei ein Medaille für besondere Verdienste im Gefecht, erklärt Opa: Von seinem Vater vererbt, der im Ersten Weltkrieg als MG-Schütze an der Westfront kämpfte, als solcher haben er wohl viele Menschen erschossen. Ich starre eine Weile dieses kalte Stück Metall an. Die Toilette runterspülen? So einen blutverschmierten Mist werde ich niemals meinen Kindern weitergeben, erkläre ich. Meine Worte prallen von Opas 90 Jahre altem dicken Betonschädel ab wie von einer Bunkerwand. Das sei die Geschichte meiner Familie, ob es mir passe oder nicht, da gebe es nicht viel zu bewerten. Dann die Wunderwaffe aller Opas: die Letzte-Wunsch-Nummer. Es sei seine quasi letzte Bitte an mich, den Orden ewiglich weiterzuvererben. Er schließt die Schatulle und steckt sie in meine Jacke. Ich kapituliere bedingungslos. Die Medaille liegt jetzt in der gleichen Kiste wie Torty und Hefty, die Lieblingsschlümpfe meiner Kindheit. INGO ARZT