: Fünf Schüsse und ein Toter
Yassin Ali-K. hat bei seiner Festnahme einen Polizisten erschossen. Er sagt: Aus Versehen. Der Staatsanwalt sagt: Mit Absicht. Das Gericht muss nun urteilen, ob es sich um Notwehr handelte
von JAN ROSENKRANZ
Totschlag ist, wenn man etwas mit der Absicht macht, jemanden umzubringen, und am Ende ist dieser Jemand tot. Notwehr ist, wenn man das gemacht hat, um selbst mit dem Leben davonzukommen. Wenn am Ende ein Polizist tot ist, wird es schwieriger. Es sei denn, man glaubt nicht, dass es Polizisten sind, die gerade die Tür auframmen, sondern gefährliche Feinde, die nach Rache dürsten. Juristen sagen dazu Putativnotwehr. Der Verteidiger auch.
Selbst der Staatsanwalt würde das so nennen, aber er glaubt nicht, dass es so war. Er wirft dem Angeklagten vor, „am 23. April 2003 einen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein“. Juristen sagen dazu Totschlag. Auch der Verteidiger würde das so nennen, aber er glaubt nicht, dass es so war. Er glaubt an Irrtum und die Angst vor den Feinden. Diese Version ist sicher besser für seinen Mandanten. Totschläger sitzen länger.
Fest steht, ein Polizist wurde erschossen und ein zweiter schwer verletzt. Fest steht auch, dass der Angeklagte geschossen hat. So weit sind sich Verteidiger und Staatsanwalt einig. Der Angeklagte hat das im Verhör und vor Gericht gestanden.
Er heißt Yassin Ali-K., wurde vor 34 Jahren im Libanon geboren. Verheiratet, drei Kinder, vielfach vorbestraft, Knasterfahrung inklusive. Jetzt ist Yassin Ali-K. wieder ein Gefangener. Er sitzt leicht erhöht in einem Terrarium aus Glas und Stahl, den bulligen Rumpf auf zwei beindicke Arme gestützt, den kurz rasierten Kopf zwischen die mächtigen Schultern versenkt.
Der tote Polizist gehörte zum Sondereinsatzkommando, zum SEK. Es war gekommen, um Yassin Ali-K. festzunehmen wegen einer Messerstecherei. Vielleicht findet der Prozess deshalb hinter Sicherheitsschleusen, Panzerglas und Gittern statt, im Saal 700, dem „Terroristensaal“, in dem zuletzt die rechte Hand von Carlos „lebenslänglich“ aufgebrummt bekam. Vielleicht ist auch dieser Libanese so gefährlich. So gefährlich, dass er sogar in der Box gefesselt bleiben muss, dass Handschellen nicht reichen, sondern an seinen Füßen eine Kette rasseln muss. Seit fünf Prozesstagen sitzt er so da und wartet auf sein Urteil.
Am Nachmittag des 23. April sitzt Yassin Ali-K. im Wohnzimmer seiner Eltern in der Neuköllner Kienitzer Straße. Die Familie isst gemeinsam – Yassin, seine Frau und die drei Kinder, Vater, Mutter, Bruder Omar und dessen Sozialarbeiterin. Omar hat Freigang. Zum ersten Mal seit drei Jahren. Die Sozialarbeiterin will die Familie kennen lernen.
Der Vater kam früh aus dem Libanon nach Westberlin, Mitte der 70er-Jahre holte er seine Frau und die neun Kinder nach. Yassin kam früh auf die schiefe Bahn – Diebstahl, Einbruch, Knast. Seit ein paar Jahren ist er sauber, zumindest wurde er nicht mehr bestraft. Er ist jetzt Geschäftsführer und Sicherheitschef der Rudower Disko „Jungle“. Doch vor ein paar Tagen hat es Stress gegeben. Eine Messerstecherei.
Nach dem Essen gibt es Kaffee. Der Fernseher läuft, die Kinder spielen und in der Küche spült die Sozialarbeiterin mit Yassins Frau das Geschirr. Zur gleichen Zeit tragen Männer in Zivil große Reisetaschen in den Hausflur. Sie haben einen Haftbefehl dabei. Yassin Ali-K. gilt als dringend tatverdächtig. Und bewaffnet.
Also muss das SEK ran. Das SEK kennt keine Freunde und keine Klingeln. Sie beziehen Stellung. Ganz vorne Roland Krüger, 37, die Kollegen nennen ihn „Bulette“. Krüger trägt eine schwarze Lederjacke, darunter eine schwarze Schussweste, einen schwarzen Helm und ein grünes Metallschild mit der Aufschrift „Polizei“. Auf das Kommando rammt er damit die Wohnungstür auf und stürmt in den Flur. Vier Kollegen stürmen nach. Dann fallen die Schüsse.
So weit sind sich Staatsanwalt und Verteidiger einig. Doch die Versionen variieren im Detail.
Der SEK-Beamte, der hinter Krüger lief, sagt, man habe sie erkennen müssen – am Schild und an den lauten „Polizei!“-Rufen. Vor Gericht heißt der SEK-Mann nur „Nummer 14“. Aus Angst vor Rache sagt er hinter einer weißen Leinwand aus. Dem Leiter des Einsatzes hat man einen Bart angeklebt, eine Perücke aufgesetzt und eine gelbe Sonnenbrille. Er sagt, als die Tür aufflog, stand der Angeklagte schon am Ende des Flures. Kälte im Blick, die Pistole im Anschlag. Trotz der Rufe habe er sofort geschossen. Der Berliner SEK-Chef sagt, alles verlief nach Plan. Keine Fehler.
Der Verteidiger bezweifelt das. Das muss er auch, denn bis hierhin lässt sich schwer auf Putativnotwehr plädieren. Also von vorn, aus Sicht des Angeklagten: Er sitzt am Wohnzimmertisch. Er weiß nicht, dass er gesucht wird. Er weiß auch nichts von den Männern im Hausflur. Er weiß nur, dass sein Vater gesagt hat, er soll nicht auf die Straße gehen, weil das zu gefährlich ist. Es gibt Ärger mit dem Al-Z.-Clan. Ein Mitglied der feindlichen kurdisch-libanesichen Großfamilie wurde vor dem „Jungle“ niedergestochen. Er liegt noch immer im Koma. Die Familienältesten haben ergebnislos verhandelt. Ein Friedensrichter hat vergebens versucht zu vermitteln.
Der Al-Z.-Clan will den Türdienst der Disko übernehmen. Wer die Tür hat, kontrolliert den Laden, bestimmt, wer Drogen verkaufen darf und wer anschaffen geht. Immer wieder hat es deswegen Streit gegeben. An diesem 18. April endete er in einer Messerstecherei.
Aber nicht Yassin hat zugestochen, sondern sein Vetter Rami H. Er weiß das. Die Polizei weiß das nicht. Dem Al-Z.-Clan ist das egal. Er will Rache. „Du bist tot“, haben sie gerufen, und Yassin wusste, dass das mehr war als ein Spruch. „Sie erwischen dich – auf offener Straße oder in der Wohnung. Jeder weiß das“, sagt Yassin Ali-K. später vor Gericht.
Krüger braucht zwei Anläufe, um die Tür aufzurammen. Beim ersten Mal trifft er nur den Türknauf. Es knallt. Die Kinder schreien, die Frauen auch. Yassin springt auf und zieht aus dem Hosenbund eine 9-Millimeter-Ceska, Modell 75. Er hat die Pistole bei dem Streit vor der Disko erbeutet. Nahezu blindlings feuert er fünfmal in den Flur. Der erste Schuss trifft Krüger in den Kopf. Die Kugel schlägt unterhalb des Jochbeins ein, zertrümmerte zwei Halswirbel und tritt am Hinterkopf wieder aus. „Die Verletzungen ließen sich mit einem Weiterleben nicht vereinbaren“, sagte ein Gerichtsmediziner. Gerichtsmediziner reden so. Auch der zweite SEK-Mann wird verletzt. Eine Kugel durchschlägt sein Schienbein, zwei weitere treffen sein Gesäß.
Yassin Ali-K. sagt: „Es tut mir Leid. Es war ein Versehen.“ Er sagt, er habe die Männer nicht als Polizisten erkannt. Er habe kein grünes Schild gesehen und auch die Rufe nicht gehört. Darum habe er geglaubt, dass „meine Feinde“ die Wohnung stürmen, um ihn umzubringen.
Die Polizei hat die Szene später nachgestellt. Ergebnis: Man habe das Schild erkennen müssen. Aber mit dem Nachstellen ist das so eine Sache, wenn die Versionen variieren. Wer weiß, wie Krüger das Schild getragen hat? Wer weiß, ob überhaupt? Wer weiß, was Yassin Ali-K. wirklich gesehen hat? Krüger war ganz in Schwarz und auf seiner Weste soll die „Polizei“-Aufschrift gefehlt haben.
Ein Nachbar, der direkt hinter seiner Tür stand, hat die Rufe der SEK-Männer gehört. Die Sozialarbeiterin, die in der Küche neben der Tür das Geschirr spülte, nicht. Nur diesen Knall hat sie gehört und dunkle Gestalten gesehen. Eine stand plötzlich in der Küche und hat „Auf den Boden!“ gerufen, sagt sie vor Gericht. An Polizei habe sie da nicht gedacht.
Auch der Vater nicht. Er war über den Balkon getürmt und zwei Zivilbeamten in die Arme gelaufen. Er habe „Überfall! Holen Sie die Polizei!“ gerufen. Das haben die beiden Beamten zu Protokoll gegeben. Der Richter hat es abgelehnt, sie vorzuladen.
Heute beginnt der sechste Prozesstag. Es sollen die Protokolle von 25 abgehörten Telefonaten verlesen werden. Der Verteidiger kennt sie schon. Er sagt, sie bezeugen, dass sein Mandant mit einem Überfall gerechnet hat und dass er sich bedroht fühlte. Der Richter hofft, dass die Beweisaufnahme damit abgeschlossen wird und am Nachmittag die Plädoyers gehalten werden. Der Verteidiger sagt, lassen Sie sich überraschen.