Führungsdebatte gerät außer Kontrolle: FDP droht Kernschmelze
Der bisher loyale Generalsekretär Lindner setzt sich in der AKW-Frage von Parteichef Westerwelle ab. Dieser sieht sich lauten Rücktrittsforderungen ausgesetzt.
BERLIN taz | Wäre der Vergleich nicht etwas unfein, ließe sich sagen: Der FDP ergeht es derzeit wie einem havarierenden Atomreaktor. Nachdem die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz für die Partei desaströs verlaufen sind, gerät die lange schwelende Diskussion über ihr Führungspersonal außer Kontrolle. In diesen Tagen scheint alles möglich, auch der Rücktritt des Parteivorsitzenden.
Sichtbarstes Zeichen für die Machtverschiebung in der Partei ist der Vorstoß von Christian Lindner. Der FDP-Generalsekretär hatte am Dienstag überraschend gefordert, die acht derzeit abgeschalteten Atomkraftwerke dauerhaft stillzulegen. Eine Vereinbarung mit den vier Betreiberkonzernen solle "rasch Rechtssicherheit" schaffen. Lindner sprach sich auch gegen die Übertragung von Restlaufzeiten alter Atommeiler auf neuere Reaktoren aus. Dies sei "politisch nicht vorstellbar".
Parteifreunde und Unionsleute zeigten sich verblüfft bis zornig. Denn indirekt gesteht Lindner damit ein: Die Abschaltung von AKWs folgt nicht fachlichen, sondern politischen Anforderungen. Mit seinen Äußerungen setzt sich Lindner, bislang stets demonstrativ loyal gegenüber seinem angeschlagenen Chef, in einem entscheidenden Punkt von Westerwelle ab. Dieser sieht sich immer lauteren Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen ausgesetzt.
Ob Lindners Vorstoß die Billigung des Parteivorsitzenden hat, ist unklar. Entweder entgleitet Westerwelle gerade die Macht an eine Gruppe aufstrebender Mittdreißiger: Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler, NRW-Landeschef Daniel Bahr und Lindner. Diese warten seit Längerem auf eine Gelegenheit, die Machtverhältnisse in der Partei zu ihren Gunsten zu verändern.
Wird Brüderle aus dem Kabinett rotiert?
Möglich ist auch, dass Westerwelle hofft, durch Zugeständnisse an das Trio seine Macht zu erhalten. Der FAZ zufolge soll der Parteichef Rösler den Posten Rainer Brüderles als Wirtschaftsminister angeboten haben. Bahr, derzeit Staatssekretär im Gesundheitsministerium, könnte dann Rösler nachfolgen. Lindner bliebe Generalsekretär.
Der Kursschwenk wird auch möglich durch die Schwäche der FDP-internen AKW-Befürworter. Diese sitzen vor allem in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – und haben nun weniger Macht denn je. Bis zu einem Treffen der Führung aus Bund und Ländern am 11. April sollen die Personalentscheidungen gefallen sein.
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