Friedrich-Ebert-Stiftung klärt auf: Ungerechtigkeit im Schulsystem
Die Friedrich-Ebert-Stiftung leistet in einem neuen Band, was die Sozialdemokraten seit Pisa vergessen haben: die Chancenungleichheit im Bildungssystem zu brandmarken.
Wer wissen will, wie es um die Gerechtigkeit an Deutschlands Schulen bestellt ist, der sollte zu diesem Band greifen. Am Freitag erscheint bei der Friedrich-Ebert-Stiftung die Aufsatzsammlung "Soziale Herkunft entscheidet über Bildungserfolg". Die AutorInnen räumen mit der Mär auf, die nach Iglu und Pisa 2006 im Dezember die Runde machte: Dass schulmäßig alles wieder im Lot sei und es bei der sozialen Abhängigkeit der Bildungsergebnisse Fortschritte gebe.
Das Gute an dem Papier ist, dass es so schnell, so knapp und so prägnant daherkommt. Die Pisastudien zu lesen ist eine Qual, besonders die Fassungen des deutschen Konsortiums umschreiben die Knackpunkte stets abstrakt. Das ist bei Eberts anders. Auf wenigen Seiten wird das Kaleidoskop abgehandelt.
Am wichtigsten ist wahrscheinlich Heike Solgas Abriss über die institutionellen Ursachen von Bildungsungleichheit. Solgas Text sollte Pflichtlektüre für die Kultusminister werden. Denn sie zeigt an drei Beispielen, was eine gegliederte Schule anrichtet. Erstens entstehen dadurch "differenzielle Lernmilieus". Das heißt, die Haupt- und Sonderschulen haben sich zu sozialen Problemzonen entwickelt, die negativen Einfluss auf Leistung und Motivation der Schüler haben. "Das ist eindeutig ein Beleg dafür, dass unser Bildungssystem soziale Unterschiede verstärkt, statt sie zu verringern."
Das ist ein alter Hut, aber gut, dass die neue Direktorin am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin ihn noch einmal aufsetzt. Zweitens berichtet Solga auch, dass selbst die Lehrpläne bereits eine Benachteiligung enthalten. In den Hauptschulen lernen 58 Prozent der Insassen nur zwei Stunden Naturwissenschaften pro Woche - an Gymnasien sind es 17 Prozent. Drittens ist es der Staat selbst, der die Karrierepfade von Haupt- und Oberschülern auseinandertreibt: aktiv - und durch Unterlassen. In Schweden, England und den Niederlanden besuchen 80 Prozent der Grundschüler eine Schule, in der es Co-Teaching für Leseprobleme gibt. Eine solche zweite Person für Stütz- und Förderunterricht bieten die deutschen Bundesländer nur in 42 Prozent der Primarstufen an.
Der Ebert-Sammelband ist aber nicht nur gut, sondern auch höchst ärgerlich. Ärgerlich, weil man sich fragt: Warum erst jetzt? Warum haben die Sozialdemokraten, die ja selbst auch in der Broschüre vorkommen, so lange und so eisern geschwiegen? Erinnert sei an Doris Ahnen, die jahrelang aus Rücksicht auf ihre Unionskollegen Wortgirlanden kreiert hat. Und die erst in den letzten Monaten ihre Sprache wiedergefunden hat. Vielleicht hätte es gut getan, wenn die Sozis früher den Mund getan hätten, wenn sie die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) nicht hätten allein im Regen stehen lassen. Nur so wäre man früher zu der Erkenntnis gekommen, dass natürlich ein Umbau der Schulen von heute auf morgen nicht zu haben ist, dass man aber, bitteschön, sofort hätte anfangen müssen.
Der Witz ist ja, dass heute Bildungskritik in aller Munde ist. Erst am Wochenende haben die Spitzenverbände der Arbeitgeber und Industrielle mitgeteilt, dass es "skandalös" ist, wenn laut Pisa jeder fünfte Schulabgänger nicht ausbildungsreif sei. Alarmierend sei auch, dass 15 Prozent der Jugendlichen keinen Berufsabschluss hätten und 21 Prozent der Studienanfänger ihr Studium vorzeitig abbrächen. Recht haben sie. Aber wieso eigentlich kann die Wirtschaft im Jahr sieben nach Pisa mit solchen Meldungen Schlagzeilen machen? Weil viele Sozialdemokraten so lange so eisern geschwiegen haben. CHRISTIAN FÜLLER
Leser*innenkommentare
Manou Enak
Gast
Hat denn schon mal jemand die Betroffenen, d.h. die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen, gefragt, ob sie überhaupt an mehr Bildung interessiert sind???
Bernd Füllfederhalter
Gast
Bildung ist doch Ländersache, besonders der CDU war der bildungspolitische Fleckenteppich, das ganze nebulöse "Elite"-Gesumse, die Hauptschule, und die Privatisierung der Bildung doch ein hohes Anliegen. Die CDU hatte im Bundesrat entsprechende Mehrheiten und setzte sich durch. Die CDU war immer gegen angebliche "Gleichmacherei". Davon liest man hier komischerweise nix. Und wer ansonsten Woche für Woche medial als Studiengebührenbefürworter auftritt, sollte zur Chancenungleichheit lieber mal schweigen. Herr Munoz hatte schon länger eine sehr pointierte Kritik am deutschen Bildungssystem geäussert, nur war seine Kritik wohl zu wenig Bertelsmann- und CDU-kompatibel, und der Frau "Elite" Schavan gefiel sie natürlich auch nicht.
Andreas Remstedt
Gast
Herr Häußler,
"Educational Entrepreneurship" nennt sich Ihr Arbeitsbereich an der Universität Karlsruhe also - warum nicht "Erzieherisches Unternehmertum"? Wäre das zu deutlich?
Ludwig Paul Häußner
Gast
Kritische Anmerkungen bezüglich einer verfehlten Berufsbildungspolitik
Ein unternehmerisches Vorgehen kann ? in vier Schritten bzw. Phasen ? wie folgt skizziert werden: das Gewordene hinterfragen, umdenken, das Neue kreieren und in das Bestehende integrieren -also ein stetiges Aufgreifen und Verwandeln.
Für das deutsche Berufsbildungssystem gilt es im Hinblick auf die EU-Konzeption für die Berufsausbildung umzudenken. Und genau dieses Umdenken fällt gerade in Deutschland schwer, weil die industrielle wie nachindustrielle Berufsbildung im Zunftwesen wurzelt und implizit noch immer nach dem Meisterprinzip verfahren wird, mit der Zuständigkeit des einzelnen Handwerksbetriebs bzw. des einzelnen Unternehmens. Das geschaffene Dual-System in der Berufsbildung mag zwar immer noch einzigartig in der Welt sein, im Hinblick auf handwerkliche oder produktionstechnische Erfordernisse. Für die moderne nachindustrielle, hocharbeitsteilige, komplexe Wirtschaftsweise, mit durchaus weiterhin handwerklichen wie industriellen Kernbereichen, ist das Meisterprinzip mehr oder weniger überholt. Was tun? ist die Frage. In einem rohstoffarmen wie auch leider bald einem an Kindern armen Land gilt es die vorhandenen Potenziale der Kinder und Jugendlichen so auszubilden, dass sie in erster Linie lebenstauglich ? für ihr jeweils individuelles Unternehmen Lebenslauf ? und auch berufstauglich werden. Berufstauglich heißt in diesem Kontext vor allem die Metakompetenz sich immer wieder aufs Neue beruflich neu spezialisieren zu können. Dabei hängt die Berufstauglichkeit vor allem von der Lebenstauglichkeit ab, wenn man bedenkt, dass die Berufsarbeit nur die ?halbe Miete? ist. Soll heißen: bei einer derzeit durchschnittlichen Lebenserwartung von ca. 80 Jahren können wir von rund 40 Berufsjahren ausgehen über alle Berufe mit ihren unterschiedlichen, körperlichen, seelischen und mentalen Anforderungen und Belastungen. Opaschowski stellt deshalb folgende Frage: ?Wie kann sich der abhängig Beschäftigte auf einmal zum Selbsttätig-Werdenden entwickeln, zum selbstbewussten Do-it-yourselfer und eigenständigen Unternehmer??
Vor der Berufstauglichkeit bedarf es der Lebenstauglichkeit mit dem allgemeinen Lernziel: Handeln können ? selbstbestimmt und sozial verantwortlich. Die Erfordernisse der nachindustriellen Gesellschaft lassen sich mit veralteten Bildungs- wie Ausbildungsstrukturen nicht bewältigen oder gar meistern. Wenn Lernarbeit schon über den gesamten Lebenslauf anfällt, muss auch die Ausgangsbasis verbreitert werden. Die längere Lebenserwartung führt dazu, das wir den menschlichen Lebenslauf inzwischen in fünf Hauptphasen gliedern können: Kindheit und Jugend 0- 20, frühes Erwachsenalter 21 ? 40, mittleres Erwachsenenalter 41 ? 60, hohes Erwachsenenalter 61 ? 80 und darüber hinaus das ?Greisenalter?.
Das bedeutet, dass wir für Kindheit und Jugend eine für alle zwölfjährige Schulzeit vorsehen, die allgemeinbildende, Profil bildende und berufsbildende Inhalte einschließen würde. Die bisherigen Strukturen sind den Anforderungen einer nachindustriellen Gesellschaft anzupassen, d. h. Phasen organisierten Lernens wechseln sich ab mit Phasen des Erfahrungslernens.
Leider werden die einzelnen Schulen von dem jeweiligen Kultusministerium eines Bundeslandes zentral bewirtschaftet ? hierarchisch pyramidal. Die einzelne Schule ist unterste Behörde, und die Lehrkräfte sind letztlich Unterrichtsbeamte. Vor lauter Lehrplänen bleibt für eine am Kind orientierte Freiheit der Lehrer nicht viel übrig. Es erstaunt, dass in Wirtschaft und Gesellschaft die institutionelle Frage nach einer innovativen Schule überhaupt nicht gestellt wird. Deshalb ein Plädoyer für Educational Entrepreneurship und Schule als pädagogisch-unternehmerische Aufgabe in der Gestalt einer autonomen, frei-öffentlichen Schule mit konsequenter Subjektförderung ? durch staatlich finanzierte Studiengutscheine ? und einem subsidiären Aufbau des Schul- wie Hochschulwesens.
Leider gehören die Schulen und Hochschulen noch immer zu den letzten zentral verwalteten ?volkseigenen Betrieben?. Was nicht nur Not tut, sondern die Bildungsnot beseitigen kann, ist Educational Entrepreneurship. Berufsbildende (Vollzeit-)Schulen könnten z. B. in gemeinnützige GmbHs umgewandelt werden, und die Lehrerkollegien könnten sich für deren Betriebe einen ?Charter? ? also eine Urkunde in der Freiheiten gewährt werden, in diesem Falle eine Schule nach Recht und (Grund-)Gesetz zu betreiben ? vom jeweiligen Bundesland einholen. Die Lehrkräfte wären dorthin im dienstlichen Interesse beurlaubbar. Länder und Landkreise würden Ihre Zahlungen nicht mehr an das Objekt Schule leisten, sondern zur Subjektförderung übergehen ? mittels staatlich finanzierter Bildungsgutscheine. Die Unternehmen könnten zusätzlich an die gemeinnützigen Schulen ? Steuer mindernd ? spenden. Praktisch wäre dies ein ?Azubi-Outsourcing?. So schickt z. B. die Postbank ihre Azubis an eine privatrechtlich organisierte Business-School. Diesem Bericht zufolge werden viele Unternehmen selbst zu Bildungsdienstleistern, ?um das Ausbildungsmanagement zu professionalisieren und größere Einheiten zu schaffen. Das wäre eine innovative Weiterentwicklung vom dualen zum trigonalen Ausbildungssystem ? Staat, Wirtschaft und frei-öffentliche berufliche (Vollzeit-)Schulen ? mit der Möglichkeit zum Schulunternehmertum. Ausgestattet mit staatlich finanzierten Bildungsgutscheinen und Verträgen für die im Rahmen der Ausbildung erforderlichen Praxisphasen müsste es keine Jugendarbeitslosigkeit mehr geben. Das ist weniger illusionär dafür mehr Realtraum. Voraussetzung ist, dass die verantwortlichen Entscheidungsträger in Wirtschaft, Politik und Schulwesen dies auch wirklich wollen, statt die Jugendarbeitslosigkeit lediglich zu verwalten bzw. zu kaschieren.
Lernen unternehmen bedeutet Initiative entfalten und Investitionen in die Mitarbeiter-Entwicklung tätigen
Wird der Vitalprozess des Lernens nicht entsprechend kultiviert; Ausbildung als Kosten und nicht als Investition verstanden, dann leiden ? zeitversetzt ? unwillkürlich die anderen Vitalprozesse darunter. Nicht rechtzeitig ausgebildete und damit fehlende Mitarbeiter werden auf einmal zur Wachstums- und Entwicklungsbremse. Tanjev Schultz geht in seinem Kommentar ?Investition statt Taschengeld? in der Süddeutschen Zeitung der Frage nach, ?warum es sich für Firmen lohnt, Geld in die Ausbildung zu stecken?. Es scheint gerade so, als ob dies die deutschen Unternehmer und Unternehmer in den letzten 25 Jahren vergessen hätten. Insofern gilt für den modernen Betriebswirt die gleiche Erkenntnis wie für den Landwirt, dass es keine reiche Ernte geben kann, wenn nicht zuvor der Acker für das Säen vorbereitet wird und die hoffentlich aufgehende Saat auch entsprechend gehegt und gepflegt wird. Unternehmensgestaltung wie auch der Vitalprozess des Lernens sind ? so betrachtet ? in erster Linie eine Kulturleistung. Der Kultur- und Bildungsbereich dient auf gesellschaftlicher Ebene der Regeneration wie auch die Personal-Entwicklung und Ausbildung im Unternehmen der Reproduktion der eigenen Leistungsfähigkeit dient. Deshalb kann es kein lernendes Unternehmen geben, wenn nicht auch der Vitalprozess des Lernens bewusst unternommen wird!
Ludwig Paul Häußner
Arbeitsbereich Educational Entrepreneurship
Universität Karlsruhe (TH) - IEp
Domas
Gast
Guten Morgen,
auch in unserer Zeit ist es wichtig, die Doppelmoral und das bewußte Weggucken sein zu lassen, um eine vernünftige Bildungsreform zustande zu bringen.
Fakt ist, was immer wieder betont wird, auch in der Bildung gibt es Klassenunterschiede.
Und Fakt ist auch, dass diese Bildung die Bildung der herrschenden Klasse ist.
Nur so kann man sinnvoll, die Bildungsschere überwinden.
Erst wenn man diese kleinen Weisheiten verstanden hat, kann man Veränderungen angehen und durchsetzen.
Daß es besser geht, beweist uns die Bildungsinfrastruktur in anderen Ländern.
Jan Werich
Gast
1. Dieses Sozialdemokraten-Klatschen ist langsam öde. Wer hat denn bildungspolitisch die Mehrheiten? Wohl nicht die Sozis. Darauf nicht hinzuweisen ist ärgerlich. Herr Füller mal wieder für Spiegel-online geübt.
2. Die Zahlen zum Naturwissenschaftsunterricht irritieren mich: In NRW bekommen Hauptschüler 18 Wochenstunden NW-Unterricht in der SEK I, Gymnasiasten geändert durch Schwarz-Gelb 20 (früher 24) Wochenstunden. OK, ich hab die Studie nicht gelesen.
3. Ich finde (mal wieder) einige reißerische Formulierungen von Herrn Füller komplett daneben: Hauptschüler sind keine ?Insassen?. Auch wenn sie solche Diffamierungen mittlerweile gewohnt sind.