Freitagscasino: Die Dialektik des Kapitals

Viel Kapital muss vernichtet werden, bevor sein Besitz wieder lohnt. Und es ist unklar, ob jemals bessere Zeiten anbrechen werden. Der Kapitalismus ist in seinem Kern getroffen.

Wie weiter mit dem Kapitalismus? Bild: Jacob Bøtter | CC-BY

Was ist bloß an den Finanzmärkten los? Nie entwickeln sie sich so, wie man es erwartet. Besonders bemerkenswert waren die Ereignisse rund um die Entscheidung der US-Ratingagentur Standard & Poor's, die Zahlungsfähigkeit der USA herabzustufen. Eigentlich hätte man damit rechnen müssen, dass die Besitzer von amerikanischen Staatsanleihen in Panik geraten. Schließlich bekamen sie amtlich bestätigt, dass sie ihr Geld eventuell nicht wiedersehen.

Doch eine Panik war nicht zu erkennen. Die Anleger schienen bestens zu schlafen. Jedenfalls verzichteten sie bereitwillig darauf, höhere Zinsen zu verlangen, um wenigstens einen Gegenwert für das gestiegene Risiko zu erhalten. Stattdessen warfen sie der der amerikanischen Regierung das Geld sogar noch hinterher. Kaum hatte Standard & Poor's seine Warnung hervorgestoßen, sanken die Renditen für 10-jährige US-Staatsanleihen – von 2,5 auf 2,3 Prozent.

Das ist seltsam. Noch seltsamer ist allerdings, dass die Investoren sogar bereit sind, Verluste hinzunehmen, damit sie ihr Geld in den USA parken können. Denn dort liegt die Inflation momentan bei 3,6 Prozent. Wer jetzt in zehnjährige US-Staatsanleihen investiert, macht also einen jährlichen Verlust von mehr als einem Prozent. So hatte man sich den Kapitalismus eigentlich nicht vorgestellt, dass die Kapitalisten freiwillig ihr Kapital vernichten.

Drei Erklärungen

Drei Erklärungen für dieses Phänomen sind denkbar: Die Anleger spinnen, die Anleger spinnen nicht, der Kapitalismus hat ein systemisches Problem. Um es vorwegzunehmen: Die Investoren irren nicht. Sie folgen zwar gern dem Herdentrieb, aber rechnen können sie trotzdem. Ihnen ist nicht entgangen, dass sie mit US-Staatsanleihen momentan Verluste einfahren. Aber auch ein Verlust ist eben relativ – er könnte ja anderswo noch größer sein.

Und danach sieht es aus. Die Aktienmärkte oszillieren sich in die Tiefe, und auf den Rohstoffmärkten geht es ebenfalls nach unten, ein Ende ist nicht abzusehen. Bei den US-Staatsanleihen dagegen sind die Verluste wenigstens kalkulierbar.

Diese risikoscheue Verlustakzeptanz ist nicht nur bei Großinvestoren zu beobachten: Die Kleinsparer verhalten sich genauso. Ängstlich parken sie ihr Geld auf Festgeldkonten, die kaum Zinsen abwerfen, und warten auf bessere Zeiten.

Allerdings ist unklar, ob diese besseren Zeiten jemals anbrechen werden. Es stellt sich nämlich die "Systemfrage", wie es früher so schön hieß. Wobei sich eine interessante Umkehrung zeigt: In den 70er Jahren wurde ständig über die "Systemfrage" debattiert, ohne dass dies das System namens Kapitalismus jemals näher tangiert hätte. Doch jetzt, wo die Systemfrage längst aus dem Diskurs verschwunden ist, drängt plötzlich das System selbst diese Frage auf: Ist der Kapitalismus am Ende?

Wenn eine Superblase platzt

Auf jeden Fall scheint er in seinem Kern getroffen. Denn Kapitalismus meint ja die Idee, dass man Geld investiert, um hinterher mehr Geld zu haben. Doch neuerdings sind alle Renditen im Minus, so dass sich das Kapital nicht mehr akkumuliert - sondern selbst vernichtet.

Sogar Konservative glauben inzwischen nicht mehr, dass dies nur eine unglückliche Phase sei, die wie jede Konjunkturdelle in einem Aufschwung mündet. Einmal mehr scheint der legendäre Hedgefonds-Manager George Soros Recht zu behalten. Er prognostizierte schon vor Jahren, dass sich eine "Superblase" aufgepumpt habe, die nun in mehreren Schüben platzt.

Aber was ist eine "Blase" oder gar eine Superblase? Diese Metapher erklärt sich ja keineswegs von selbst, obwohl sie inflationär verwendet wird. Beschrieben wird damit immer die dramatische Vermehrung von Vermögen. Beim Gold ist momentan besonders eindrucksvoll zu sehen, wie sich eine Blase bildet: Vor einem Jahr kostete die Unze etwa 1.200 Dollar, jetzt sind es rund 1.800 Dollar. Dieser Anstieg wird gern als "Wertsteigerung" tituliert. Doch tatsächlich handelt es sich um eine versteckte Inflation.

Dieser Gedanke mag stolzen Goldbesitzern nicht auf Anhieb einleuchten. Man stelle sich aber die gleiche Entwicklung bei Nahrungsmitteln vor: Wenn ein Brot erst 1,20 Euro pro Kilo kostet und ein Jahr später schon 1,80 Euro verlangt werden, dann würde niemand von Wertsteigerung sprechen - sondern eine Hyperinflation von 50 Prozent erkennen.

Übrigens ist der Run aufs Gold ein weiteres Indiz, dass der Kapitalismus in der Krise steckt. Denn bekanntlich ist Gold kein Produktionsmittel und wirft daher auch keine Zinsen oder Dividenden ab. Wer Gold kauft, "investiert" nicht, obwohl dies immer wieder gern behauptet wird - sondern verhält sich wie ein Fürst im Feudalismus, der eine Schatzkammer anlegt.

Es ist zu viel Vermögen da

Doch nicht nur beim Gold gibt es eine Blase, auch Immobilien und Aktien sind überbewertet. Überall hat eine Inflationierung des Vermögens stattgefunden, die sich als "Wertsteigerung" maskiert. Diese heimliche Inflation lässt sich auch messen. Im Jahr 1992 hatten die Deutschen ein Vermögen von 7,26 Billionen Euro, wie sich beim Statistischen Bundesamt nachlesen lässt. 2008 waren es schon 15,07 Billionen: Macht ein stattliches Plus von nominal 107,6 Prozent.

In der gleichen Zeit legte die Wirtschaft aber nominal nur um 51 Prozent zu. Das Vermögen wuchs also doppelt so schnell wie die Produktion. Das kann nicht funktionieren, sondern bedeutet langfristig: Die Renditen müssen sinken - oder das Vermögen. Diese Kapitalvernichtung läuft, wie die fallenden Aktienkurse und die Verluste bei den Staatsanleihen zeigen. Aus der "Superblase" wird Luft abgelassen.

Der Ausgang ist ungewiss. Bisher hat der Kapitalismus noch jedes Mal überlebt, wenn sein Ende nah schien. Doch der Trend ist klar: Es wird noch viel Kapital vernichtet werden müssen, bevor es sich wieder rentiert, Kapital zu besitzen. Das ist Dialektik – noch eines dieser Worte, die früher so populär waren.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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