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Archiv-Artikel

Frech und sportlich

„Zur bügelfreien Bluse trägt Lydia eine ockerfarbene Damenweste. Die Hose ist verschlusslos und hat einen Gummizug.“ Modenschau in einem Altersheim

von ELISABETH WAGNER

Mit einer Drehung, die ihre schlanke Taille, die perfekte Ausgewogenheit ihres Oberkörpers zur Geltung bringt, wendet sich die Moderatorin in Richtung Tür. „Einen herzlichen Applaus für unsere Lydia bitte.“ Die Moderatorin verharrt in der Drehung. Bis endlich aus dem Halbdunkel des Flurs Lydia Hansen den Speisesaal betritt, eine alte Frau mit blassem, freundlichem Gesicht und mattbraunen Locken. Die Heimleitung hatte Lydia Hansen am Morgen angesprochen. Ob sie sich nicht vorstellen könnte, bei der Modenschau am Nachmittag dabei zu sein. Es werde bestimmt lustig. Lydia Hansen hatte wegen ihrer Schwerhörigkeit nicht genau verstanden, worum es eigentlich gehen würde. Vorsichtshalber aber hatte sie zugesagt.

„Lydia zeigt uns eine grün abgesetzte Bluse in hellem Grundton.“ Die Moderatorin, Angestellte der Firma Uhlig, eines auf Seniorenoberbekleidung spezialisierten sächsischen Vertriebshandels, beginnt ihre Erläuterungen zur Winterkollektion: „Zur bügelfreien Bluse trägt Lydia eine schön geschnittene ockerfarbene Damenweste und eine pflegeleichte, dazu passende grüne Hose. Maschinenwaschbar jedes einzelne Stück.“ Lydia Hansen blickt an sich herunter, fremd, und entgegen der vorab erteilten Instruktionen bleibt sie stehen. Schlendern sollte sie, sich drehen und die Moderation durch erklärende Gesten unterstützen. Keinen Schritt tut Lydia mehr. Sie starrt in das Gesicht der Dame in Gelb. „Die Hose ist verschlusslos und hat einen Gummizug“, sagt die gerade. „Das ist praktisch für das Bäuchlein, da zwickt und zwackt nichts.“ Lydia lässt die Arme hängen und verbeugt sich wie ein Mädchen, das ein Gedicht aufgesagt hat.

Ihre Nachfolgerin macht den unglücklichen Eindruck mit einer zart lindgrün und rosa gestreiften Bluse wett. „Unsere Elsa kann es sich leisten“, schwärmt die Moderatorin. Und Elsa Hopf, die pensionierte Sportlehrerin aus Göttingen, die am Vormittag noch Sorge hatte, ihr frisch frisiertes, und „leider allzu feines“ graues Haar könne durch häufiges Umkleiden, vor allem durch enge Pulloverausschnitte Schaden nehmen, enttäuscht sie nicht. Den linken Arm auf die schmale Hüfte gestützt, streift sie an ihren Mitbewohnern vorbei, lässt ihren Blick fordernd und durchaus etwas von oben herab über die ihr neugierig zugewandten Gesichter gleiten.

„Zur Bluse trägt Elsa einen Rock in Beige … 25,50 Euro wäre der teuer, 24 Euro kostet die leicht taillierte Bluse … Die gecrashte Optik ist übrigens topaktuell.“ Elsa dreht sich einmal mehr um die eigene Achse. Eine halbe Stunde zuvor hat sie angesichts der garantiert bügelfreien Textilware noch spekuliert. Kopfschüttelnd. Wie, hatte sie sich halblaut gefragt, solle ausgerechnet sie, „eine solch magere Person“, die anderen Heimbewohner zur Mode inspirieren, zur Schönheit, wo es doch in ihrem Alter nur um simple Unterhaltung gehen könne. Außerdem habe in diesem Seniorenwohnheim niemand nur annähernd eine ähnliche Figur. „38.“ Beiläufig hatte Elsa Hopf ihre Konfektionsgröße genannt und mit leichter Hand die Kleidersammlung nach Brauchbarem abgesucht. „Acryl“, konstatierte sie verächtlich, und während die Idee, vielleicht für sich selbst etwas zu finden, damit abgetan war, hatte die Assistentin Elsa „zur Anprobe“ in die Küche bestellt.

Elsa stand da in Strumpfhose und Unterhemd mit dem Rücken zur Tür. Erst als sie wieder angezogen war, wandte sie sich um, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Lydia lehnte noch an der blankgeputzten Spüle, bis auch ihr die Assistentin die Kleider hinhielt. Die grüne Hose, die Bluse. „Die Männer sollen sich bitte im Badezimmer fertig machen“, rief die Assistentin durch die offene Tür. Ein breiter Lichtstreifen fiel auf den Boden. Drinnen im Saal, an der langen Tafel und dem kleinen runden Tisch in der Ecke bei der Heizung wartete man auf Kaffee und Kuchen.

Na, Herr Kunze, keinen Appetit?“ Die Antwort auf die Frage der blonden Heimleiterin fällt knapp aus. „Nein. Die Prostata“, sagt Herr Kunze, ein kleiner, untersetzter Mann vom Kopf der Tafel. Die Heimleiterin nickt wissend. Er wolle aber jetzt nicht an den bevorstehenden Klinikbesuch denken, auch nicht an seine kaputte Lunge. Lieber wolle er sich „etwas Hübsches“ ansehen. Anton Kunze lacht. Als Elsa auf dem blankgewischten Laminat hereinspaziert wie ein zu spätem Ruhm geborenes Mannequin, schleudert er den ersten Kommentar in die Runde: „Viel zu dünn!“

„Ein langarmiges Herrenpolohemd in kräftigen Rottönen zeigt uns als Nächstes unser Heinz.“ Die Moderatorin hält ihre Stimmung auf heiterem Niveau. Die Anwesenden, so ihre Anregung, sollten das „wunderbar weiche Baumwolljersey“ ruhig einmal anfassen. Die Hose, die graue, die Heinz da trage, gehöre allerdings nicht zum Firmenbestand. „Heinz trägt seine eigene Hose.“ Die Handelsreisende in Sachen Mode deutet den Hintergrund vorsichtig an: Es wäre für „unseren Heinz“ ein wenig zu anstrengend, auf die Schnelle nicht nur das Hemd, sondern auch noch das Beinkleid zu wechseln. „Der Preis für das Hemd: 24 Euro.“

Anton Kunze, Melker, Industriearbeiter und Krankenwagenfahrer im Ruhestand, wiederholt die Zahl leise für sich. Der Vergleich sei absurd. Für 13 Euro, grummelt er, habe er im vergangenen Herbst eine Winterjacke in Polen gekauft. Das war vor seiner Krankheit. Als er noch fliehen konnte vor dieser Enge hier. Anton Kunze drückt mit dem Ellbogen eine kleine Kuhle in das weiße Tischtuch. Dreizehnjährig sei er nach Polen gekommen, sagt er, auf einen Bauernhof, und als junger Mann schließlich in die polnische Hauptstadt. Seine Frau, sagt Anton, habe bloß zu Hause in der Wohnung gesessen und in die DDR gewollt. „Pahhh!“, sagt er. „Viel schöner war es doch in Polen.“ Mit einer deutlichen Streckung seiner noch kräftigen Rückenmuskulatur kehrt Herr Kunze zurück in die Gegenwart. „Na, das gefällt mir!“, ruft er Herrn Motz in einer terrakottafarbener Steppweste zu. Johann Motz, der zweite Mann der Modenschau, gibt den Kavalier und zugleich den lustigen Opa. Groß und schlank, stolziert er in Richtung Kaffeetafel, breitet seine Arme aus wie zum Gruß an ein Millionenpublikum. Die Geste lässt sich nicht halten. Johann Motz lächelt hinter Brillengläsern, die sein zartes, bartloses Gesicht zur Hälfte bedecken. „Wie selten das ist“, begeistert sich die Moderatorin. „Zwei Männer gleich!“ Sie kann sich an ähnliche Unterstützung kaum erinnern. Johann Motz nimmt wieder Fahrt auf.

Er tänzelt. Seine Frau, zwei Plätze neben Anton, strahlt über das vom Bluthochdruck gezeichnete Gesicht. „Dieses Modell hat eine Druckknopfblende, einen flotten Stehkragen sowie leichte Daunenfütterung und Reißverschlusstaschen auf beiden Seiten.“ Johann klappt synchron zu den Erläuterungen die Vorderseiten der Weste auf und zu. „Überflüssig“, bemerkt Anton. „Weste ist Weste. Alte-Leute-Mode … Praktisch muss es sein.“ Lydia steht bereit. Diesmal in einer „festlichen Bluse-Top-Kombination in türkischem Muster“.

Lieber hätte sie sich in einem Faltenkleid gesehen. „Festlich“ wollte sie aussehen, „sauber und adrett“. Doch Lydia, die ehemalige Hilfsköchin, fügt sich in den Plan, den andere bestimmen. Und sie will es besser machen, dieses Mal. Lydia lässt den transparenten Blusenstoff über die Schulter rutschen und präsentiert zu den Worten der Moderatorin das darunter befindliche Top in Seidenimitation. „Wie eine Gardine“, ruft Anton und kassiert einen Tadel von der Heimleitung. „Herr Kunze!“ Doch Kritik wird selbst aus den hinteren Reihen laut: „Elsa hätte das tragen sollen.“ Vielleicht hätte man sich überzeugen lassen. Immerhin, die Bluse, das ärmellose Top, ab einem gewissen Alter müsse man sich das damit verbundene Risiko ganz ehrlich eingestehen. Das Raunen wiederholt sich. „Nein, Elsa hätte das tragen sollen.“

Elsa, unverheiratet und einzig ihrer mittlerweile verstorbenen Schwester zuliebe von Göttingen nach Berlin gezogen, führt stattdessen ein türkisfarbenes Twinset vor. „Für unsere Elsa nur das Beste“, gelobt die Moderatorin mit Verweis auf den vorhandenen Elasthan-Anteil. 28 Euro kostet deshalb allein schon der Pullover. „Wer es preiswerter möchte, kann Strickjacke und Pulli auch für 25,50 haben.“ Ohne Elasthan. Die Moderatorin kommt vom Finanziellen zurück aufs Ästhetische: „Türkis zu weißem Haar – für ältere Damen ist das etwas vom Schmeichelhaftesten.“ Frau Krüger, von manchen als „verwirrt“ bezeichnet, merkt auf.

In lila Samt thront sie, aufrecht und schmal, am Extratisch nahe der Heizung. Eine lange Perlenkette liegt ihr in doppelter Reihe um den Hals. Sie betrachtet das Twinset wie etwas, dessen Beurteilung eine gewisse Ernsthaftigkeit verlangt. Sie hebt und senkt den Kopf kaum merklich. Eine kleine, elegante Bewegung ganz in der Vertikalen ist es. Geeignet, die Linien an Elsas Körper zu überprüfen, die Stimmigkeit der Silhouette. Und auch als Heinz, in den vergangenen Monaten dünn und im Gesicht spitz geworden, noch ein letztes, 26 Euro teures Polohemd vorführt, folgt ihm Frau Krüger mit derselben Aufmerksamkeit. „Frech und sportlich“, nennt unterdessen die Moderatorin den Eindruck, den Heinz in seinem gestreiften Polohemd hinterlässt.

Nach dem zweiten Durchgang schließt sich ein dritter an, ein vierter war geplant. Die Moderatorin blickt gegen halb vier auf die Uhr. Zu bedenken seien die Rückfahrt nach Chemnitz, der Feierabendverkehr. Der letzte Durchgang werde besser abgekürzt. Das erste Blau taucht an einer Übergangsjacke an Johann auf, eine Damenweste für Lydia ist zu begutachten, ein Winterpullover an Heinz. Elsa, an seinem Arm, zeigt eine Wickelbluse, die auch für das Frühjahr geeignet sei. „Wer weiß, ob ich dann noch lebe“, erwidert Frau Krügers Nachbarin pessimistisch. Die Bemerkung wird überhört. Die Moderatorin bedankt sich für die Aufmerksamkeit und eröffnet den Verkauf. „Die Herrschaften“ könnten ab sofort nicht nur sämtliche Modelle in sämtlichen Größen, sondern auch Unterwäsche erwerben.

Johann greift nach dem Kuchen, Heinz erklärt, müde zu sein. Johanns Frau aber erhebt sich. „Ich will mal nachsehen“, sagt sie und verspricht ihrem Mann, dass sie sich im Falle einer günstigen Gelegenheit bei ihm wegen des Geldes melde. Johann nickt. „Jaja, die Frauen. Immer noch ein Kleid mehr.“ Vier Stück Streuselkuchen stapelt er auf gelber Zellstoffserviette. Anton Kunze rührt sich nicht vom Fleck.

„Ich brauche nichts“, sagt er und kommt auf das Hemd zu sprechen, das er am Leib trägt. „Meine Tochter hat es mir geschenkt“, sagt er. „Im Sommer, am Strand. ‚Papa, willst du mit mir an die Ostsee fahren?‘ So stand sie vor der Tür.“ 16 Jahre, sagt Anton, habe er die Tochter nicht gesehen. Den falschen Mann habe sie geheiratet und er selbst habe auch lieber allein und in Freiheit gelebt als mit der Familie. Und jetzt stellte seine Tochter diese Frage! Freiheit und Familie waren plötzlich eins.

„Die Bluse passt.“ Johanns Frau kommt, um von ihrem Mann das Portemonnaie zu erbitten. „In Polen …“, setzt Anton an. „Jaja doch“, Johann wendet sich ab von den Geschichten über die Ostsee. „Blödsinn“, findet er, aber seine Frau trägt schon ihre Bluse in einer Plastiktüte hinaus. Anton sieht der Verkaufsassistentin beim Einpacken der Pullover zu. Dann will er „nur noch raus hier“.

Im windgeschützten Eingangsbereich des Seniorenheims lässt er sich auf eine Bank fallen. Schwer atmend. Er lenkt sich ab mit deutsch-polnischen Preisvergleichen für Rinderrouladen und Hühnerklein. Johann und Elsa laufen grußlos an ihm vorbei. Er reagiert nicht, nimmt sich weiter das Recht, die Menschen zu mögen. Ob sie wollen oder nicht. Und dann sieht er es als Erster. Das Leuchten hinter der Glasscheibe. Frau Krüger ist zu sehen, in ihrem neuen Twinset, dem Modell mit Elasthan-Anteil.

ELISABETH WAGNER ist freie Autorin in Berlin