Frauenstadtgeschichte: Auf den Spuren von Martha Hansch

Der queer-feministische Stadtspaziergang informiert über die Frauen- und Lesbenbewegung in Kreuzberg.

Frauen in Kreuzberg Bild: ap

Franziska steht auf einer Bank vor dem Künstlerhaus Bethanien und kann nicht so recht glauben, was los ist: Etwa hundert Menschen scharen sich um die 33-Jährige. Sie sind gekommen, weil Franziska und ihre beiden Mitstreiterinnen zum „queer-feministischen Stadtspaziergang“ eingeladen haben. Sie wollen durch Kreuzberg flanieren und Orte besuchen, die für die Berliner Frauen- und Queerbewegung von Bedeutung sind. Räume, die zum Teil längst von der Gegenwart überschrieben worden und unsichtbar sind – bis jemand ihre Geschichte erzählt. Franziska und die QueerFem AG übernehmen den Job.

Eine kämpferische Vorrede zum Warmwerden darf dabei nicht fehlen: „Wut ist kein emotionales Gedöns diskriminierter Sondergruppen!“, ruft Franziska von der Bank in die Menge, die zum Großteil aus Frauen unterschiedlichen Alters besteht. „Wut ist Ausdruck eines ungerechten Allgemeinen!“ Weil es sonst niemand tut, reißt sich die Rednerin selbst aus dem Flow: „Wollt Ihr eigentlich schon los?“ Auf keinen Fall, die Leute lauschen aufmerksam bis zum letzten Wort, bevor sie sich in Richtung Waldemarstraße aufmachen.

Denn dort, wo die Waldemarstraße auf den Mariannenplatz trifft, liegt der Tatort. Dort hat sich Martha Hansch, damals 31, „groben Unfug“ herausgenommen, wie es im Polizeibericht heißt. Claudia, gelbe Sportjacke, raspelkurzes Haar, moderiert diese Station und liest dem Spazierpublikum aus dem Bericht vor. Er ist auf den 19. März 1911 datiert: Es ist der erste Weltfrauentag, und die Frauen fordern ihr Wahlrecht. Versammlungen dürfen nur in privaten Räumen stattfinden, denn Demonstrationen sind in Preußen verboten.

Ein solcher Versammlungsraum liegt damals in der Waldemarstraße. Auf ihrem Weg dorthin unterlaufen die Frauen das Demonstrationsverbot, indem sie sich gegenseitig aus den Häusern klingeln, um geschlossen hinzugehen. Die Gruppen werden immer größer. Martha Hansch, die mit dem groben Unfug, ist mitten drin.

„Es war ein Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei“, erzählt Claudia, „wie auch heute oft noch in Kreuzberg.“ Sie steht unter einem Baum auf einer kleinen Anhöhe und zeigt auf die Neubauten: „Dort versuchte die Polizei, die Gruppe um Martha Hansch auseinander zu treiben.“ Hansch habe sich vor die anderen Frauen gestellt und geschrien: „Es lebe das allgemeine gleiche Wahlrecht!“ Damit stiftete sie eine Straßenkundgebung an.

Die SpaziergängerInnen vernehmen diesen Ausgang sichtlich erfreut. Unter ihnen ist Lukas. Um seinen Hals baumelt eine analoge Kamera, um seine Hüften eine neonfarbene Gürteltasche. Lukas studiert im vierten Semester Gender Studies, wohnt in Kreuzberg und ist hier, weil er mehr wissen will über seinen Kiez: „Ich kriege Perspektiven auf die Stadt, die sonst untergehen in den großen Geschichtsschreibungen.“

Beim Laufen weist er freundlich auf zahlreiche Hundehaufen hin, FlaneurInnen halten zusammen! Geschlossen wie Martha Hansch und ihre Freundinnen schlendert die Gruppe über den Bürgersteig in Richtung Schokoladenfabrik. Ein älteres Paar – sie mit Kopftuch, er mit Gehstock – ist im Weg und wird vom queer-feministischen Spazierclan einverleibt, wuselt sich aber wieder tapfer den Weg nach draußen. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Pulk auf den Hof der Schokoladenfabrik drängt.

Das Frauenzentrum in der Mariannenstraße beherbergt verschiedene Projekte wie den Frauennotruf sowie einen Hamam. Nebenan liegt mit dem „Kraut und Rüben“ ein im Frauenkollektiv geführter Bioladen, der im Schaufenster statt Produkten Ungleichheit ausstellt: Diagramme, die das Einkommen von Berufstätigen nach Geschlecht illustrieren. Doch der Höhepunkt steht den SpaziergängerInnen noch bevor: der Besuch des Ballhauses Naunynstraße. Das Theater stellt regelmäßig Zuschreibungen wie Geschlecht oder Herkunft zur Debatte. Lisa, eine der Veranstalterinnen, lässt mit leuchtenden Augen und der hohen Stimme der Begeisterung das Berlin der 1920er Jahre auferstehen: „Ballhäuser waren für Lesben wichtige Orte, um sich zu treffen und zu flirten“, erzählt die 31-Jährige. „Aus heutiger Sicht ist es schier unglaublich, wie viele lesbische Clubs, Bars und Veranstaltungen es damals in der Stadt gab.“ Etwa 30 angemeldete Lokale sowie zahlreiche Damenbälle, Kabaretts und Mondscheindampferfahrten seien fester Teil des Stadtlebens gewesen. Leserinnen konnten aus sechs Lesbenzeitschriften wählen.

Im Publikum ist vereinzeltes Schnauben zu hören, als Männer in Latzhosen mit Bollerwagen scheppernd Bierkisten über den Hof des Ballhauses transportieren. „Jungs, jetzt seid doch mal ruhig!“, ruft eine Frau aus der Menge. Dann zückt Lisa ihre Wunderwaffe: das „Lila Lied“, damals die Hymne der Homosexuellen. Sie spielt es zum Abschluss aus winzigen Boxen auf der Treppe und übertönt den Krach: „Wir sind nun mal anders als die anderen, die nur im Gleichschritt der Moral geliebt.“ Hier und da stimmen die FlaneurInnen in den Refrain mit ein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.