Fraternisieren, inszenieren, dokumentieren: Spaß an der Theke
Berlin auf Blättern
von Jörg Sundermeier
Überraschend ist, wie viele Stammgäste regelmäßig, bisweilen fast täglich seit Jahrzehnten für ein, zwei Stunden in die gleiche Kneipe gehen – nicht um sich zu betrinken, sondern um sich außerhalb der engen Familie oder des Arbeitsplatzes zu entspannen, Rat zu suchen oder zu geben. Es ist eine andere Form der Unterhaltung, als sich vom isolationsfördernden Fernsehschirm berieseln zu lassen, und ermöglicht einen echten Austausch. Wirtshäuser sind zumal für Stammgäste ein neutraler Übergang vom privaten zum öffentlichen Raum.“ Mit diesen Worten zeichnet der frühere FAZ-Autor Robert von Lucius die Gründe nach, die Leute in die Kneipen treiben.
Doch ist dem wirklich so? Geht es also beim Besuch im – beispielsweise – Narkosestübchen gar nicht so sehr um den Rausch, sondern vielmehr um ein intaktes Sozialleben? Es sei hier einmal dahingestellt, ob dem so ist. Denn von Lucius hat ein schönes Buch auf seinen Beobachtungen aufgebaut, das Buch „Noch’n Bier?“, eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Fotografen Henning Kreitel. Kreitel war auch schon beim Vorgängerprojekt dabei, dem Kompendium „Uff’n Bier“, damals schrieb Hanne Walter die Texte. Diesmal geht es nicht mehr um Ostberliner Pinten, nun werden die Kneipen südlich der Spree erschlossen – also jene in Charlottenburg, Kreuzberg, Schöneberg oder Neukölln.
Sechzehn Tavernen, wie von Lucius seine Forschungsobjekte manchmal mit ein wenig Ironie nennt, haben es ins Buch geschafft, selbstverständlich sind legendäre Schankstuben wie das oft auch als Filmkulisse genutzte Wilhelm Hoeck 1892 dabei oder das Yorckschlösschen, das eine Pilgerstätte für alle Jazzfans ist.
Auch fehlt der Goldene Hahn am Heinrichplatz nicht, über dessen frühere Wirtin der Kneipensammler zu berichten weiß: „Sie war eine starke Persönlichkeit. Sie zog Existenzen in ihr Reich, die auch tagsüber ‚keinen Platz im Leben und in der Welt fanden‘. Zwei Jahrzehnte lang führte sie den Goldenen Hahn als – Nachtsteuer-befreite – Tagesbar. Und sie hatte jeden im Griff, ob Punker oder die Spieler an den nun entfernten Spieltischen, die mit den Lampen früher einen Hauch von Tristesse ausstrahlten.“
Mühseliger Bierverzehr
Doch auch weniger oft besungene Institutionen wie das Schlawinchen oder der Stammtisch in Neukölln oder die Straßenbahn, in der einer der letzten Westberliner Straßenbahnwagen als Tresen dient, werden aufgesucht. Dort wird zunächst mit den Raucherinnen und den Schachspielern fraternisiert. Daher versucht Henning Kreitel in seinen Bildern nicht nur das Interieur der Bars zu inszenieren, sondern fängt auch Alltagsszenen ein, die durchaus beides zeigen – Spaß an der Theke und die mühselige Arbeit, die der tägliche Bierverzehr für einige Stammkunden eben nun einmal ist.
Kreitel allerdings führt die Abgelichteten nie vor, sondern lässt vielmehr die Protagonisten an ihren Stammplätzen für sich stehen. Peinliche Szenen hat er nicht ins Buch aufgenommen, es macht ihm keine Freude, Versehrte vorzuführen.
Der für die Begleittexte zuständige von Lucius folgt diesem Prinzip – auch er hat sich offenkundig gern unter die Leute gemischt, hat nicht nur die Geschichte der Kneipen aufgelesen, sondern eben auch den Stammkundinnen und Zufallsgästen zugehört. Das, was er so mitbekommen hat, gibt er gut dosiert weiter, ein jedes Etablissement hat eine Besonderheit, ein Eigenleben, er macht dieses sichtbar. Auf diese Weise entsteht tatsächlich das Porträt einer jeden Kneipe, wird die jeweilige Atmosphäre nachvollziehbar. Und man bekommt ein bisschen Durst beim Lesen.
Gebildeter ist man allerdings auch nach der Lektüre. Man weiß etwa nun etwa, was Celosillicaphobie ist. Es ist die Angst vor leeren Biergläsern.
Robert von Lucius und Henning Kreitel: „Noch’n Bier?“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, 160 Seiten, 12,95 Euro
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