■ Frankreich mauert: Widersprüchlich
Frankreich scheint sich seit dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung in keiner Weise auf die Veränderungen in Europa eingestellt zu haben. Paris hat sich immer noch nicht an die neue politische und diplomatische Macht des Nachbarn gewöhnt. Und daran, daß Europa heute fast 30 Staaten umfaßt.
Frankreich hängt einer widersprüchlichen Europavorstellung aus den 50er Jahren an: Ja zu einem starken Europa, solange es mit schwachen Institutionen ausgestattet ist. Das funktionierte vielleicht anfangs bei sechs Mitgliedsländern, aber nicht mehr heute. Frankreich muß sich entscheiden, ob es eine Europäische Union nach deutscher Art will oder eine Freihandelszone à la britannique. Dieses Zögern hat wenig mit Jacques Chirac zu tun. Bereits der Vertrag von Maastricht, den François Mitterrand aushandelte, trägt alle Zeichen französischer Zweideutigkeit: Wenn die gemeinsame Außenpolitik oder die Zusammenarbeit bei der Polizei nicht funktioniert und das Europäische Parlament wenig Einfluß hat, dann liegt das daran, daß Paris sich damals für London und gegen Bonn entschieden hat, für ein schwaches und gegen ein starkes Europa.
Chirac hat seine Abneigung gegenüber Bonns föderalen Vorstellungen offenbart, als er öffentlich mit John Major flirtete, eine Erweiterung des Mehrheitsprinzips bei den Abstimmungen ablehnte und die Idee von „Kerneuropa“ zurückwies. Er redet lieber von „wechselnder Solidarität“: Wer will, soll da, wo er Lust hat, enger zusammenarbeiten.
Aber mit etwas Realitätssinn begreift Frankreich hoffentlich bald, daß es keine Alternative zur Interessengemeinschaft mit Deutschland gibt. Paris sollte sich bei allem Souveränitätsdenken klarmachen, daß Europa diplomatisch und wirtschaftlich ein unersetzlicher Machtmultiplikator ist. Darüber hinaus kann ein von einem isolierten Deutschland dominiertes Mitteleuropa nicht im französischen Interesse sein, das ist noch nie gut ausgegangen. Frankreich braucht Deutschland, andersherum ist das nicht so eindeutig. Von den Briten hat Chirac gerade vorgeführt bekommen, daß es keinen Ersatz gibt für die deutsch-französische Verständigung: London ignorierte den französischen Appell zu Bosnien. Die neuen Hubschrauber für ihre Armee kauften die Briten in den USA und nicht in Paris. Helmut Kohl hat sich zur selben Zeit in Sachen französische Atomversuche sehr verständnisvoll gegenüber Chirac verhalten. Wenn Chirac also kein Europäer aus Leidenschaft ist, dann wird er es wohl wenigstens aus Vernunftsgründen werden. Jean Quatremer
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