Fotoband über Hongkongs Slums: Leben im Haus auf dem Haus
Der Bildband von Stefan Canham und Rufina Wu zeigt Einblicke in eine kuriose Parallelgesellschaft Hongkongs. Der Fotograf und die Architektin erkundeten Siedlungen auf Dächern.
Die Dokumentarfotografie und die Fotoreportage erzählen - um Petraca zu paraphrasieren - im Allgemeinen nicht die Geschichten, die immer nur zum Ruhme Roms gereichen. Sie suchen vielmehr nach den Schattenseiten der Erfolgsgeschichten, klären auf, kritisieren und ergreifen Partei. Zumindest zielen sie auf den Alltag, der leicht übersehen wird, auf das nicht Beobachtete, das Marginale, auch und gerade in seiner scheinbar banalsten Form.
Damit haben dokumentierende und reportierende Fotografie teil am modernen Willen zum Wissen. Modernes Wissen ist vergleichendes Wissen, quantifizierbares, sogenannt objektives Wissen, vor allem aber ist es neues Wissen. Wie das Wissen darüber, was auf den Dächern der Wohnhochhäuser von Hongkong vor sich geht. Dort haben nämlich seit über 50 Jahren Migranten - zunächst vom chinesischen Festland, inzwischen aber auch aus dem ganzen asiatischen Raum - ganze Dörfer errichtet: "Portraits from Above - Hong Kongs Informal Rooftop Communities", wie der wunderbare Bildband heißt, der jetzt bei Peperoni Books erschienen ist (mit einem Essay von Ernest Chui. Berlin 2009, 280 Seiten, 100 Fotografien, 58 Architekturzeichnungen, Hardcover, 45 Euro).
Es sind der britische, in Deutschland lebende Fotograf Stefan Canham und die in Kanada lebende, chinesischstämmige Architektin Rufina Wu, die ihren Willen zum Wissen bewiesen, indem sie auf die Dächer kletterten, acht Stockwerke hoch, ohne Aufzug (ab dem neunten Stock mit Fahrstuhl), um sich schließlich in einem Labyrinth aus Korridoren, engen Fluren, Wellblechhütten oder auch schmucken kleinen Ziegelbauten wiederzufinden. Beide lebten auf Einladung des Hong Kong Art and Culture Outreach von Dezember 2007 bis Februar 2008 als Artists-in-Residence in der Stadt, in der sie anlässlich eines von den Behörden geplanten Stadtsanierungsprogramms auf die dem Blick entzogenen und daher nur Insidern bekannten Dachsiedlungen stießen, die sie dann zusammen erforschten.
Fünf Dachsiedlungen haben sie im Rahmen ihres Projekts dokumentiert, das im letzten Jahr mit dem Bauhaus Award 2008 ausgezeichnet wurde. Aus jeder Kolonie wiederum stellen sie zwei bis elf Fallbeispiele vor, wobei Rufina Wu die Anlage wie die einzelnen Behausungen in präzisen axiomatischen Zeichnungen und Grundrissen darstellt, während Stefan Canham, der vor zwei Jahren bei Peperoni Books schon mit einen überraschend instruktiven Bildband über das Wohnen im Bauwagen auffiel, erneut sachlich-überlegte Schwarzweiß- und Farbaufnahmen der melancholischen Dachkolonien liefert.
Da nun mit dem Willen zum Wissen auch die politische Forderung einhergeht, das bislang Ausgeschlossene, Verschwiegene oder schlicht Übersehene nicht nur als neues Wissen zu erschließen, sondern es - als solches legitimiert - in die Beschreibung der Gesellschaft einzuführen, steuert Ernest Chui, Professor im Fachbereich Sozialarbeit und Soziales Verwaltungswesen an der Universität Hongkong, einen profunden Essay zur Situation der Rooftop Communities bei. Von den Behörden werden die Provisorien, die gemietet, aber auch wie eine Eigentumswohnung gekauft werden können, zwar als illegal betrachtet, gleichzeitig werden sie aber toleriert und mit Strom und Wasser versorgt. Tatsächlich sind erstaunlich viele der Dachbewohner, die Wu und Canham in kurzen, informativen Texten vorstellen, nicht unzufrieden mit ihrem Leben im Haus auf dem Haus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!