Fotoausstellung in Hamburg: Die Welt dahinter
Es gibt weiche Töne im harten Straßenleben einer Großstadt. Zu sehen ist das auf Fotos des New Yorker Fotografen Saul Leiter in den Hamburger Deichtorhallen.
Der Fotograf Saul Leiter steht in den Straßen von New York und fotografiert, er ist ein Teil des Geschehens, aber wenn man seine Bilder sieht, dann ist da immer etwas, das ihn von der Welt abschottet.
Mal ist es ein Schaufenster, durch das Leiter blickt, mal eine Wand aus Schneeflocken, mal ein Strauch oder ein Geländer. Hinter den Schaufenstern und Schneeflocken befinden sich New Yorker Passanten, Briefträger, Damen beim Shopping. Man könnte sagen, Leiter habe sie aus der Deckung heraus fotografiert. Aber seine Bilder haben nichts Verdruckstes.
Saul Leiter ist mittlerweile 88 Jahre alt und hat 65 Jahre lang als Maler und Fotograf in New York gearbeitet. Er bekommt mit 12 Jahren seine erste Kamera geschenkt und schmeißt mit 23 Jahren sein Studium am theologischen Kolleg in Cleveland, zieht nach New York und wird Künstler. Ab den späten 1950er Jahren arbeitet er auch für Modemagazine, aber eigentlich geht es ihm zeitlebens um die Kunst.
, geboren 1923 in Pittsburgh (USA). Im Alter von 12 Jahren bekommt er die erste Kamera geschenkt. Mit 23 schmeißt er das Studium. Heute ist Saul Leiter einer der bekanntesten Fotografen der Welt.
„Ich ging immer davon aus, ich versänke einfach so in Vergessenheit“, sagt er. Dann aber kommt der späte Ruhm, beginnend durch eine Ausstellungsserie seiner frühen Farbfotografien ab 1997. Im Jahr 2006 folgte die Monografie „Early Color“. Und derzeit ist in den Hamburger Deichtorhallen die weltweite erste große Retrospektive mit über 400 Arbeiten zu sehen.
Die Verantwortlichen in Hamburg macht ihre Ausstellung euphorisch. Leiter sei ein „endlich entdeckter und nachgeholter Pionier“, mit dessen Werk „die Fotogeschichte bereits faktisch umgeschrieben“ sei, findet Kurator Ingo Taubhorn. Leiters Farbfotos sieht Taubhorn als Beleg, dass der Beginn der künstlerischen Farbfotografie auf die 1940er Jahre zu datieren sei – und nicht etwa auf die 1970er Jahre, in denen Leute wie Stephen Shore und William Eggleston mit ihren Farbfotos berühmt wurden. Außerdem habe Leiter in seiner Schwarz-Weiß-Fotografie die Grenzen zwischen Street Life, Porträt, Still Life, Mode und Architektur eingerissen.
Leiter steht mit seinen Bildern vom Straßenleben in der Tradition von Henri Cartier-Bresson, dessen Street Photography er 1947 im Museum of Modern Art sah. Anders als Cartier-Bresson aber will Leiter mit seinen Bildern nicht erzählen, sondern malerische Qualitäten schaffen. Die Farbe dient ihm als Mittel der Komposition, die Perspektive steht im Dienst des Bildaufbaus. Saul Leiter verstand sich zeitlebens als Maler und Fotograf.
Sonnenschirme, Mauervorsprünge oder Türen im Vordergrund
Leiters Stilmittel, durch etwas hindurch zu fotografieren – seien es Schaufester oder Schneeflocken –, gibt seinen Bilder Tiefe. Außerdem setzt Leiter immer wieder Dinge wie Sonnenschirme, Mauervorsprünge oder Türen als Flächen im Vordergrund ein, um den Blick zu lenken und zugleich das Motiv im Hintergrund zu abstrahieren. Es zeigen sich Anleihen etwa bei der Farbfeldmalerei von Mark Rothko, aber auch bei den geometrischen Gemälden von Piet Mondrian – Letzteren zitiert Leiter in einem Foto namens „Mondrian Worker“, das einen Arbeiter zeigt, der eine Hausfassade zufälligerweise so abdeckt, dass sie wie ein Mondrian-Bild aussieht.
Ein weiteres Stilmittel Leiters ist, mit Spiegelungen zu arbeiten. Dazu nutzt er mal Fenstern, mal Autospiegel oder regennasse Straßen. Leiter schafft damit eine Atmosphäre des Ungreifbaren, des Unwirklichen und Verschwommenen im prosaischen Alltag. Mitunter braucht es einen zweiten und dritten Blick, um sich auf seinen Fotos zu orientieren. Oder die Passanten verlieren an Präsenz, als wären sie Wesen aus einem Schattenreich.
Leiters Fotos entwickeln eine Poesie des Alltags: Es ist mehr dahinter, als sich bei vordergründiger Betrachtung zeigt. Die formale Umsetzung des poetischen Anliegens ist das Durchblicken, Dahinterblicken, Spiegeln, aber auch der Einsatz der Farbe als geheimnisvolle Bande. Das Grün einer Ampel im Winter hat bei Leiter so viel Weißtöne wie der Schnee, der sie umgibt. Der Hut des Passanten hat die Farben des Taxis, in das er gleich steigt. Die Wirklichkeit hat mehrere Dimensionen, sagen diese Bilder.
Für seine urbanen Farbfotos hat Leiter das New Yorker East Village so gut wie nie verlassen, seit 1953 wohnt er in der gleichen Wohnung. „Ich nehme Fotografien in meiner Nachbarschaft auf. Ich glaube, dass wunderbare Dinge an bekannten Orten passieren. Wir müssen nicht immer ans andere Ende der Welt rennen“, sagt Leiter. Da er sich zu Beginn seiner Karriere die teueren Farbfilme und ihre kostspielige Entwicklung nicht leisten konnte, nutzte er überalterte Filme und billige Emulsionen von Kleinanbietern. Er nahm in Kauf, dass dadurch die Kontrollmöglichkeiten über das Ergebnis und die Brillanz der Farben litten.
Vielseitiger Künstler: Von Werbefotografie bis Malerei
Seiner malerischen, poetisch entrückten Farbfotografie kam das entgegen. Obligatorisch war der Einsatz von Farbfilm dann bei Leiters Arbeiten für die Werbung. Ab 1958 arbeitet er für das Modemagazin Harper’s Bazaar und es folgen Aufträge von Magazinen wie Esquire, Elle oder der englischen Vogue. Leiter führt seine malerischen Prinzipien auch in der Modefotografie fort, allerdings weniger radikal.
Auch Leiters abstrakte Malerei, für die er vor allem wasserlösliche Farben wie Aquarell oder Gouache verwendet, ist weniger interessant. Es sind Bilder mit Titeln wie „Seascape“, in denen er Farben und Oberflächen auskostet, ohne etwas zu riskieren. Ambitioniert wirken diese Bilder allerdings noch im Vergleich mit den übermalten Aktfotografien, die Leiter auch hergestellt hat und die einen deutlichen Hang zum Kitsch haben.
Straßenfotografie, Werbung, Akte, abstrakte Malerei, übermalte Akte, alles das ist in der Hamburger Ausstellung zu sehen und es sind die Street-Ansichten, die im Gedächtnis bleiben. Es sind die Bilder eines zurückhaltenden Menschen, der die Reduktion schätzt, das Besondere im Alltäglichen sucht und so zu einer lyrischen Weltsicht kommt. Seine Bilder gewinnen einer harten Großstadt weiche Töne ab – und weisen weit über New York hinaus.
Saul Leiter. Deichtorhallen Hamburg. Bis 15. April. Katalog, Kehrer Verlag, 49,90 Euro
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