Fortwährende Spaßanstrengung

Warum ist die kindliche Gesellschaft so unglücklich? Der amerikanische Kulturkritiker Robert Bly weiß es, und das mit Aplomb, aber hat er auch seinen Mitscherlich gelesen? Die Metapher von der Verkindlichung hat Tradition  ■ Von Harry Nutt

Es spricht manches dafür, daß Jörg Kachelmann den Zivilisationstyp der neunziger Jahre verkörpert. Seine Brille, die ganz bestimmt nicht von Fielmann ist, verleiht dem Meteorologen etwas ganz und gar Anti- Intellektuelles. Der junge Wetterkundler ist einer von nebenan und will es auch sein. Bar jeden Ernstes warnt er in der „Tagesschau“ vor wabernden Hochnebeln und sich auspläddernden Nimbostratuswolken, und das mit einer nie nachlassenden Lockerheit, die die televisuelle Informationsaufnahme zu einer fortwährenden Spaßanstrengung macht. Mehr Regression im Fernsehen war nie.

Vielleicht ist der Zivilisationstyp der Neunziger aber noch besser durch Tscherno Jobatey repräsentiert. Die lange Haarpracht zu einem meist unsichtbaren Zopf zusammengebunden, fragt der sympathische, multikulturelle, bullige Jungmoderator des ZDF-Morgenmagazins in Anzug und Turnschuhen die Repräsentanten der Funktionseliten aus Staat und Wirtschaft, wie die Geschäfte so laufen, um sich schließlich mit unbeholfen rudernder Armbewegung in die eigene Disco-Vergangenheit zurück zu gestikulieren. Kachelmann und Jobatey sind nicht irgendwelche Blödelfuzzis aus dem Samstagnachtprogramm, sondern Angestellte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der bekanntlich Wert darauf legt, den mündigen Bürger mit allerhand Wissenswertem rundum zu versorgen.

Anlaß genug also, sich Sorgen um den Zustand der Kultur zu machen. Die Verkindlichung aller Lebensbereiche schreitet voran. Selbst die Politik, meint der Anglist und Romanautor Dietrich Schwanitz, verliere die Fähigkeit, zwischen Albernheit und wichtigen Dingen zu unterscheiden. Die moderne Gesellschaft, fürchtet die Publizistin Cora Stephan, sei zutiefst infantil. War Anfang der achtziger Jahre in einem Buch von Studenten noch von einem zunehmenden Gefühl der „Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“ die Rede, so darf es heute schon ein bißchen mehr sein.

Der US-amerikanische Lyriker Robert Bly hat in seinem Buch „Die kindliche Gesellschaft“ nun sogar die „Weigerung, erwachsen zu werden“ festgestellt. Die Metapher von der Verkindlichung der Gesellschaft ist sozialpsychologisch recht gut ausgearbeitet. Bereits 1963 war Alexander Mitscherlichs Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ erschienen, das sich mit dem Untertitel „Ideen zur Sozialpsychologie“ noch vergleichsweise vorsichtig an sein Thema herantastete. Die Hierarchie der Vaterrolle zerfällt, lautet Mitscherlichs Prognose, aber an deren Stelle tritt nichts prägendes Neues.

Der Hauptkonflikt der modernen Industriegesellschaft wird nicht mehr durch die ödipale Rivalität bestimmt, in der Sohn und Vater um Privilegien, aber auch um die Festlegung von Werten ringen, sondern durch Geschwisterneid auf den Konkurrenten. „Man will aufsteigen“, schreibt Mitscherlich, „das heißt aber, man will in erster Linie Vergünstigungen erlangen, nicht Verantwortung übernehmen.“

In der Entwertung der Vaterrolle lauerte Mitscherlich zufolge eine permanente Gefahr für die Demokratie. Die Vaterfigur war der Gesellschaft allerdings nicht erst in den fünfziger Jahren abhanden gekommen. Schon die Weimarer Republik ließ sich als eine vaterlose beschreiben. Die Rache des Vaters (Peter Gay) auf eine Phase kultureller Vielfalt und Offenheit folgte in der Gestalt Hitlers. Die nach dem Krieg entstandene Wohlstandsgesellschaft, so konnte man in Mitscherlichs Untersuchung lesen, wandte viel Zeit dafür auf, wie ein abhängiges Kind bloß die oralen Bedürfnisse zu befriedigen. Die wenig später in den Diskursen der 68er-Generation aufkommende Rede vom Konsumterror war nicht zuletzt auf Mitscherlichs Analysen zurückzuführen.

In einer Kultur des Narzißmus, die der prognostizierten vaterlosen Gesellschaft Mitscherlichs auffällig glich, war man dem amerikanischen Soziologen Christopher Lasch zufolge spätestens Ende der siebziger Jahre angekommen. In seinem vielbeachteten Buch „Das Zeitalter des Narzißmus“ entwarf Lasch das Bild eines narzißtischen Persönlichkeitstyps, der vom Gefühl innerer Leere, der Angst vor Abhängigkeit und von unbefriedigten oralen Süchten beherrscht ist. Der Habitus des Narzißten prägte den Zeitgeist.

Der Narziß habe Angst vor Alter und Tod, sei fasziniert von Luxus und Moden, von Stars, die er bewundert und denen er gern zugerechnet werden möchte. Christopher Lasch konstatierte einen Zusammenbruch der Autoritäten und eine Abkehr von der Bereitschaft zur Leistung. Ein dekadenter Ichkult unterhöhle die demokratischen Werte der westlichen Industriegesellschaften. Als Charakterstörung bedeute Narzißmus letztlich das Gegenteil von gesteigerter Eigenliebe. Die Verkindlichung der Gesellschaft wären Ausdruck eines Leidens an sich selbst.

Christopher Laschs vollmundiger These von der Kultur des Narzißmus lag immerhin ein sauber entwickelter Narzißmusbegriff zugrunde. Der Antrieb des Lyrikers und Geschichtenerzählers Robert Bly, die kindliche Gesellschaft zu erkunden, folgt überwiegend der bösen Ahnung, das irgend etwas schiefgelaufen ist. Er will das Rätsel lösen, „wie die amerikanische Gesellschaft in so kurzer Zeit von einer halbwegs disziplinierten, halbwegs achtungsgebietenden Kultur in Verhältnisse absinken konnte, in denen Zwölfjährige sich gegenseitig totschießen, Calvin Klein Kinder für sexuell eindeutige Werbung mißbraucht, wir an Übergewicht leiden und uns in allgemeiner Gewalttätigkeit eingerichtet haben“. Die Party von Woodstock, auf der alle glücklich waren, ist vorbei.

Wer so redet, hat wenig Interesse an Gesellschaftsanalyse, sondern genießt die reine Freude an der Predigt. Einmal mehr droht der Untergang des US-amerikanischen Imperiums aus der Unterhaltungsindustrie, die Bly erstaunlicherweise nur vom Hörensagen zu kennen scheint. Ohne sich von Erkenntnissen der Mediennutzungsforschung weiter behelligen zu lassen, raunt er von den Folgen der Bilderverschmutzung. Der Schachzug der Medien, die Stelle der Eltern einzunehmen, sei geglückt. Die postindustrielle Gesellschaft bringt fortan nur noch Halberwachsene hervor, die, unfähig zum Triebaufschub, ihre Bedürfnisse im Hier und Jetzt erfüllen müssen und in einer immerwährenden Adoleszenz verharren. Das Über-Ich, das in der paternalistischen Gesellschaft noch mit sich verhandeln ließ, sei terroristisch geworden. Das Böse kann an jeder Ecke ausbrechen. Kulturkritik erzählt sich am besten als Verfallsgeschichte. Robert Bly verquickt neuere Erkenntnisse der Hirnforschung, Freudsche Theorie und behäbigen Wertkonservatismus mit seiner Vorliebe für Mythologien und Gedichte verschiedener Kulturkreise. Der verlorengegangene Vater soll den Kindern künftig durch Initiationsrituale wieder eingeblasen werden. Das hört sich reichlich verquast an und verdiente allenfalls die Beachtung von Sektenbeauftragten, wenn Blys These von der kindlichen Gesellschaft nicht so ungemein attraktiv wäre. Die kindliche Gesellschaft ist nämlich auch eine kulturpessimistische mit einer nie nachlassenden Freude an der Selbstbezichtigung. Der Sound solcher Welterklärung hat etwas von einem Mitmachvers. Wer das Spiel kapiert hat, mäkelt ein bißchen an der Spaßgesellschaft, ehe er sich beim Squash oder Downhill-Biking die körperliche Verausgabung zuführt, die ihm die Büroarbeit nicht mehr abverlangt. Vermutlich ist aber weder Jörg Kachelmann noch Tscherno Jobatey aber ein neuer Zivilisationstyp. Beide kommen bloß in der Gesellschaft unter anderen vor. Ebenso zahlreich wie die Phänomene der Verkindlichung jedenfalls scheinen Fälle von früher Vergreisung. Ein sorgfältigerer Umgang mit dem theoretischen Rüstzeug ist bei weiterem Trendsurfen dringend anzuraten. Der Gegensatz von Spaß und Spiel, soviel kann man mit Freud wissen, ist denn auch gar nicht Ernst, sondern Wirklichkeit.

Robert Bly: „Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen zu werden“. Kindler-Verlag, 384 Seiten, 44 DM

Alexander Mitscherlichs Buch: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“. Piper, 400 S., 24,90 DM

Christopher Lasch: „Das Zeitalter des Narziß“ erschien mit einem neuen Nachwort des Autors 1995 bei Hoffmann und Campe neu und kostet 28 DM