■ Formelkompromisse und fortdauernde Auseinandersetzungen über die Frage: "Wem gehört Auschwitz?" prägten die Gedenkfeiern in Krakau und Auschwitz-Birkenau anläßlich des 50. Jahrestags der Befreiung des...: "Laßt das Schweigen herrschen!"
Formelkompromisse und fortdauernde Auseinandersetzungen über die Frage: „Wem gehört Auschwitz?“ prägten die Gedenkfeiern in Krakau und Auschwitz-Birkenau anläßlich des 50. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers
„Laßt das Schweigen herrschen!“
Langsam nähern sich die Delegationen dem Todesblock, jenem Ort, an dem sich vor 50 Jahren der Sand rot färbte von den Spuren der Hinrichtungen. Polens Präsident Lech Walesa tritt ans Mikrophon. Er spricht von seinem tiefen Respekt für menschliche Arbeit, die hier in dem berühmten Spruch am Eingangstor, „Arbeit macht frei“, verhöhnt worden sei. Hier habe Arbeit niemanden frei gemacht, nur gemartet. „Hier wie in Hunderten, Tausenden anderen Lagern in der Welt war Arbeit nur der kürzeste Weg zum Tod. Nach den Worten des Lagerkommandanten gab es nur einen Weg hier heraus – durch den Kamin. Erst der Tod befreite die Menschen von Bestialität und Gesetzlosigkeit.“
Unter den wartenden Journalisten geht ein Raunen um: Wie auch gestern in seiner Ansprache im Senat der Jagiellonischen Universität hat Walesa jeden Hinweis auf die jüdischen Opfer des Holocaust vermieden. Den hob er sich für die Feier in Birkenau auf. Da sprach er, nur an einer Stelle, von der „Vernichtung der Juden und Roma“, die Hitler auch für andere Völker vorbereitet habe: „Besonders für die Polen.“ Auschwitz, so Walesa, sei keine Ausnahme: „Die Welt ist voller solch trauriger Orte.“
In Krakau hatte Walesa von den polnischen Professoren der Universität gesprochen, die zu Anfang der deutschen Besatzung ermordet worden waren; Auschwitz nannte er eine Todesfabrik des Völkermords. Er sagte Völkermord, nicht Holocaust, und er erwähnte die Herkunft der Opfer nicht. Der Stuhl Elie Wiesels, des ehemaligen Auschwitz-Häftlings und Nobelpreisträgers, blieb dabei leer. Wiesel sprach in Birkenau, bei der inoffiziellen Feier der jüdischen Organisationen.
Angekündigt war die als Gebetsstunde, doch sie wurde zu einer Abfolge kurzer Reden, in denen ein eigentümlicher Trotz zum Vorschein kam. Ein Trotz, der der Genugtuung entsprang, trotz des nationalsozialistischen Versuchs, das jüdische Volk auszurotten, überlebt zu haben und nach fünfzig Jahren hierher zurückgekommen zu sein. Aber auch ein bißchen die Genugtuung, nicht zugelassen zu haben, das Andenken an Auschwitz vereinnahmen zu lassen.
Das zu versuchen, hatten jüdische Vertreter aus den USA und der Bundesrepublik den polnischen Organisatoren im Vorfeld der Feiern vorgeworfen. Deshalb war die eigene jüdische Andacht außerhalb des offiziellen Programms schließlich auch zustande gekommen. Die beiderseitigen Empfindlichkeiten zwischen Juden und Polen bestimmten letztlich die Atmosphäre der Feierlichkeiten – durch die Nuancen, die dabei immer wieder deutlich wurden. Mehrmals wiesen jüdische Vertreter darauf hin, Auschwitz sei Vernichtungslager vor allem für Juden gewesen, 90 Prozent der Opfer seien Juden gewesen. Fast ebensooft wies Walesa darauf hin, das Lager liege in Polen, sei aber „nicht von polnischen Händen erbaut worden“. Tief sitzt die jüdische Furcht, die Polen könnten sich Auschwitz als Symbol des Holocaust aneignen, ebenso tief sitzt die Furcht der Polen, mit Auschwitz auf der Täterseite assoziiert zu werden. Beide Ängste, auch das zeigten die Feiern, sind durchaus begründet.
Jüngste Umfragen in Polen haben ergeben, daß nur eine kleine Minderheit Auschwitz in erster Linie mit dem Massenmord an den europäischen Juden assoziiert, fast die Hälfte der Befragten bezeichnen es dagegen als Symbol des Völkermords an den Polen. Schewach Weiss, Vorsitzender des israelischen Parlaments, der Knesset, erklärte in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza, das zum ersten Tag der Feiern erschien, geradeheraus, viele Juden sähen in den Polen vor allem die Helfer der SS und Antisemiten. Daß 40 Prozent der für Judenhilfe als „Gerechte unter den Völkern“ Ausgezeichneten aus Polen stammen, spiele dabei keine wesentliche Rolle. Die Tatsache, daß nur eine Minderheit der Polen – wie neuste Umfragen belegen – Auschwitz in erster Linie mit dem Holocaust an den Juden assoziiert, ist weniger ein zweifelhafter Erfolg katholischer Vereinnahmung. Vierzig Jahre lang haben Polens Kommunisten den Völkermord für Polen vereinnahmt. Wie in der Sowjetunion nicht von jüdischen Opfern, sondern von von den Deutschen ermordeten „Sowjetmenschen“ ohne Angabe der Nationalität die Rede war, so war in Polen von nationslosen Völkermordopfern die Rede. Wie stark dieses Konstrukt im polnischen Bewußtsein verwurzelt ist, zeigt sich daran, daß sich auch der ausgewiesene Antikommunist Lech Walesa dieser Formel in seiner Krakauer Rede bediente. Doch es sind diese kleinen Nuancen, die die Verständigung zwischen Polen und Juden so schwer machen – und die Tatsache, daß sich der jüdische und der polnische Blick auf Auschwitz so oft gegenseitig auszuschließen scheinen.
Für gläubige Juden hat auf einem Friedhof wie in Birkenau vor allem Ruhe zu herrschen, undenkbar, daß daneben, in einem eigentlich zum Lager gehörenden Gebäude, katholische Schwestern beten. Für polnische Katholiken ist es undenkbar, für die Opfer eines solch horrenden Verbrechens nicht zu beten. Katholische Schwestern, die für ermordete Juden beten: ein Versuch, diese nachträglich zu christianisieren, oder eine christliche Versöhungsgeste über den Gräbern? Der Faden polnisch- jüdischer Mißverständnisse läßt sich weiterziehen: Auschwitz als Gipfelpunkt christlichen Antisemitismus? Aber ausgerechnet polnische Antisemiten waren unter Hitlers ersten Opfern, selbst erklärte polnische Antisemiten haben vor fünfzig Jahren zur Judenhilfe aufgerufen und sie praktiziert.
Das ist der Hintergrund jener Auseinandersetzungen, die sich hinter den Kulissen der Feiern immer wieder abspielten. Noch der schließlich verabschiedete Friedensappell trägt die Spuren erbitterten, bis Donnerstag währenden Streits (siehe Dokumentation S.1). Manchmal geriet in Vergessenheit, was eigentlich Gegenstand des Gedenkens war. Es gab Momente, die innehalten ließen: beim Kaddisch, der jüdischen Totenklage, in Birkenau, als dort die Lagersirenen ertönten und es beide Male ganz still uwrde über dem Gelände, auf dem noch immer jene armseligen Baracken in der Kälte stehen, in denen manche der Häftlinge es jahrelang aushalten mußten und ausgehalten haben. Momente, in denen die Opfer als Menschen und nicht mehr als Maßstäbe politischer Kategorien im Mittelpunkt standen. Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der deutschen Juden, faßte jene Paradoxie, die über den Feiern lag, in die Formel: „Die Täter lachen sich ins Fäustchen, wenn sie sehen, wie die Opfer sich streiten.“ Szymon Szurmiej, dem Vorsitzenden des Dachverbands der jüdischen Organisationen in Polen, verdanken die Feiern zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz den Satz: „An einem solchen Ort hat vor allem Schweigen zu herrschen. Wir werden auch keine Namen nennen, denn an diesem Ort sind alle Menschen gleich.“ Es war nicht seine Schuld, daß dennoch dauernd Namen und Zahlen genannt wurden.
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