: Fordern statt fördern
AUS ECUADOR KARIN GABBERT UND STEFAN REINECKE
Graue Wolken hängen in den Baumwipfeln. Es nieselt in Lago Agrio, der 40.000-Einwohner-Stadt im Amazonasdschungel. Vom Band ertönt die ecuadorianische Nationalhymne. Alberto Acosta, der Energieminister der neuen linken Regierung von Rafael Correa, hebt an zu singen. Es gibt etwas zu feiern: den vierzigsten Jahrestag der Ölförderung in Ecuador. Damals, im April 1967, ließ der US-Konzern Texaco aus Lago Agrio 1, dem ersten Bohrloch im ecuadorianischen Dschungel, Öl sprudeln.
Dann fällt die Musik aus. Vielleicht wegen des Regens, vielleicht weil in Ecuador selten etwas so funktioniert, wie es soll. So singen die fünfzig Gäste – Funktionäre der staatlichen Gesellschaft Petroecuador, die Pioniere der Ölförderung mit ihren gegerbten Gesichtern und ein paar Kämpfer gegen das Öl – ihre Nationalhymne a capella. Sie singen vom Stolz und dem Glück, ein Ecuadorianer zu sein, und ihr Gesang mischt sich mit dem Zirpen und Pfeifen der Tiere, den Geräuschen der Wildnis, die den zerstörten Dschungel überwuchert hat. Ihr Gesang klingt ein bisschen trotzig, vielleicht weil es nirgends so wenig Grund gibt wie an diesem Ort, stolz auf Ecuador zu sein.
Vor gut vierzig Jahren war hier noch unberührter Urwald, nur bevölkert von Pumas und ein paar indigenen Stämmen. Die wurden vertrieben und ausgerottet, als Texaco kam – und die Siedler. Heute ist Lago Agrio eine Goldgräberstadt, in der Morde an der Tagesordnung sind. Eine Industriebrache mit hunderten hochgiftigen Öltümpeln – der Hinterlassenschaft von Texaco. Das Grundwasser ist verseucht, früher war der Regen in Lago Agrio manchmal schwarz vom Öl, und die Fische aus dem Fluss schmeckten nach Diesel. Seit 15 Jahren klagen indigene Organisationen gegen Texaco, um den US-Konzern zu zwingen, die Schäden zu beseitigen. Sechs Milliarden Dollar, sagen Experten, würde das kosten, das wäre mehr als der gesamte Staatshaushalt Ecuadors.
Alberto Acosta war schon einmal hier, an diesem Bohrloch, das nun hübsch und sauber herausputzt ist und an dem die katastrophale Geschichte des Öls aus dem Urwald ihren Anfang genommen hat. Im Februar 1969 war das, zusammen mit seinem Großonkel, der damals Präsident von Ecuador war. Hubschrauber donnerten über das Ölfeld, es war „eine Szene wie im Vietnamkrieg“, schildert Acosta. Lago Agrio bestand aus ein paar wackeligen Hütten, zu essen gab es Langusten und Krabben aus dem Pazifik, herbeigeschafft aus einem hunderte Kilometer entfernten Hotel. Auf einem künstlichen Teich schwammen drei Schwäne aus Trockeneis. „Dieses Bild“, sagt Acosta, „war ein Vorbote“, Sinnbild eines grotesken Irrtums und all des Falschen und Zerstörerischen, das die Petrozivilisation in den Urwald gebracht hat.
Diese Jubiläumsfeier ist bemerkenswert. Denn sie rechnet radikal mit der Petroökonomie ab. All das viele Öl hat der Region nichts genützt. Ecuador ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, Sucumbios die ärmste Provinz. Seit 1967 wurde aus dem Dschungel Öl im Wert von 82 Milliarden Dollar gepumpt. Vier Milliarden Barrel, oft durch lecke Pipelines. „Wo ist das Geld geblieben?“, fragt Acosta. Texaco, sagt der Minister, hat das Land ausgebeutet und verwüstet, Schuld sei die „perverse Logik des Kapitals“. Das Öl, sagt Acosta, hat „unserer eigenen ökonomischen Entwicklung nicht genützt. Es hat Korruption und Klientelismus gefördert, es hat Abhängigkeit geschaffen, sonst nichts.“ Anders als bei den Angriffen auf Texaco applaudieren die Petroecuador-Funktionäre an dieser Stelle nicht.
Acosta ist Ende 50. Er stammt aus einer alteingesessenen, reichen weißen Familie aus dem Andenhochland. Und er hat eine Botschaft. Nämlich dass Ölreichtum ein Fluch für arme Länder ist. Ein Fluch, der Demokratie und eigene wirtschaftliche Entwicklung verhindert und, wie auch in den arabischen Staaten, Autokratien verfestigt. Das Öl, sagt Acosta, „war und ist für uns eine Falle“. Dies ist, für einen kritischen Intellektuellen, keine besondere Erkenntnis. Für den Ölminister eines Staates, dessen löchriger Haushalt zu einem Drittel von Ölexporten bestritten wird, ist es ein ungewöhnlicher Satz. Sehr ungewöhnlich.
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200 Kilometer südöstlich von Lago Agrio ist der Urwald scheinbar noch intakt. Ein undurchdringliches grünes Dickicht, ein wildes Paradies, so wie es Lago Agrio vor vierzig Jahren war. Das Gebiet ist nach dem Fluss Tibutini und den indianischen Namen Ishpingo und Tambucocha benannt, kurz ITT. Die UN hat den ITT-Dschungel zum Schutzgebiet erklärt, zum Biosphärengebiet der Menschheit. Auf einem Quadrathektar wachsen hier mehr Baumarten als in Kanada und den USA zusammen.
Vor einem Jahr, am 12. April 2006, ging der Arbeiter William Angelo tief in den Dschungel hinein. Er hatte von Holzschmugglern 200 Dollar für zwei Wochen Schwerstarbeit versprochen bekommen: Zedern fällen. Das ist illegal. Doch im Dschungel gibt es keine Polizei, keine Justiz, kein Recht. Da tauchten sie aus dem Dickicht auf, vier, fünf Gestalten, nackt, hochgewachsen und, so Angelos spätere Beschreibung, „weiß wie die Innenseite der Hand“. William Angelo wurde von neun Lanzen der Tagaerikrieger durchbohrt, seinen Kollegen Andres Moreira traf eine. Angelo starb Tage später im Krankenhaus an einer Infektion, Moreira überlebte.
Im ITT-Dschungel, unweit der Grenze zu Peru, leben die letzten drei indianischen Völker Ecuadors, die jeden Kontakt zur Zivilisation meiden: Taromenani, Tagaeri und Oñamenane. In einer Schutzzone, die ihnen der Staat zugeteilt hat. Doch der Staat existiert im Urwald nicht, und der Lebensraum der indigenen Völker schrumpft.
In diesem Dschungel „herrscht ein stummer, täglicher, von niemandem beachteter Krieg“, schreibt die ecuadorianische Journalistin Milagros Aguirre. Es ist ein ungleicher Kampf: Lanzen auf der einen Seite, Gewehre und kriminelles Profitstreben auf der anderen. Allein 2003 wurden mehr als ein Dutzend Taromenani getötet, unter ihnen auch Kinder. Die Täter waren andere Indigene, Huaorani. Viel spricht dafür, dass sie im Auftrag von Holzschmugglern getötet haben. Einen Prozess gab es nie.
Die verborgenen Völker zahlen keine Steuern, sie sind keine Wählergruppe, die man günstig stimmen müsste. Sie haben keinen Sprecher, keine Stimme, keinen Einfluss. Was sie wollen, kann man nur vermuten. Sicher ist allerdings, dass 2002 ein alter Huaorani im Urwald eine Gruppe Tagaeri getroffen hat. Und dass er danach über das Radio ihre Bitte verbreitete: Lasst uns in Ruhe! Hört auf, unsere Baume zu fällen und uns mit dem Lärm von Motorsägen und Hubschraubern zu martern!
Doch die größte Gefahr für die verborgenen Völker und den Urwald sind nicht mal die Holzdiebe, nicht die Gewalt und nicht die Abwesenheit selbst rudimentärer Formen von Rechtsstaatlichkeit. Die wirkliche Bedrohung liegt ein paar hundert Meter tief in der Erde: eine Milliarde Barrel Öl, die größte Reserve Ecuadors. Ihr Wert dürfte bei 40 Milliarden Dollar liegen. Und Interessenten, die das ITT-Öl zusammen mit der staatlichen Gesellschaft Petroecuador ausbeuten wollen, stehen Schlange: Ölgesellschaften aus Indien, Brasilien, China, Venezuela, Chile, Vietnam, der Türkei und Russland.
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Alberto Acosta wartet an der Landepiste in Lago Agrio auf das Flugzeug, das ihn zurück in die Hauptstadt Quito bringen soll. Die 40-Jahr-Feier ist vorbei. Es ist ein kühler Tag, diesig und noch nicht mal 35 Grad. Acosta hat zehn Jahre in Deutschland gelebt und in Köln Volks- und Betriebswirtschaft studiert. Zurück in Ecuador war er Berater der SPD-nahen Friedrich-Ebert Stiftung. Er hat Bücher über die Geschichte der ecuadoranischen Wirtschaft geschrieben, Analysen der Petroökonomie. Bis vor drei Monaten war er ein unabhängiger, linker Intellektueller. Jetzt ist er Minister. Er will jetzt endlich eine effektive Energiepolitik durchsetzen. Denn Ecuador exportiert Rohöl, muss aber Diesel und Benzin gegen teure Devisen importieren, weil es kaum eigene Raffinerien hat. Die Hälfte seines Stroms erzeugt Ecuador aus importiertem Diesel – eine bizarre Folge der Unterentwicklung und ökonomisch gesehen so klug, wie mit Dollarscheinen zu heizen. „Wir brauchen Wasserkraftwerke, um selbst Strom zu produzieren“, sagt Acosta, das hätten die neoliberalen Vorgängerregierungen zwanzig Jahre lang versäumt.
Seit einem Vierteljahr ist er nun Minister für Energie, Öl und Minen. In dieser Zeit hat er zwei Umweltexperten als Staatssekretäre eingesetzt, er hat den chaotischen Elektrizitätssektor wieder staatlicher Kontrolle unterworfen, zehntausende Energiesparlampen importiert, die unkontrollierte Minenausbeutung gestoppt, die Modernisierung der maroden Raffinerien in Angriff genommen, einen Plan entwickelt, die Galapagos-Inseln frei von fossilen Brennstoffen zu machen und Strom für die 30.000 Bewohner ausschließlich aus Biomasse, Sonne und Windenergie zu erzeugen. Und er hat einen riskanten Machtkampf gegen Petroecuador gewonnen. Er ist kein Träumer, sondern ein Macher. Und, in Bezug auf ITT, wahrscheinlich beides.
Er redet eher ironisch und direkt als blumig und umwegig wie viele Lateinamerikaner. „Wir wollen das Öl in ITT lassen, wo es ist“, sagt Acosta. „Ich werde meinen Kindern nicht erzählen, dass indigene Stämme ausgelöscht wurden, als ich Minister war“. Es klingt bei ihm noch nicht mal pathetisch.
Acosta hat einen Plan. Der Staat Ecuador, dessen Vertreter er ist, soll garantieren, dass das Öl im Boden bleibt. Im Gegenzug bezahlt die internationale Gemeinschaft dreißig Jahre lang die Hälfte des Nettogewinns, den das Land machen würde, wenn es das Öl ausbeutet. Dreißig mal 350 Millionen Dollar.
Das Konzept hat eine kleine Umweltgruppe entwickelt. Acosta hat es, gegen den vehementen Widerstand von Petroecuador, zur offiziellen Regierungspolitik gemacht. Wenn Ecuador das Geld bekommt, bleibt das Öl, wo es ist – genau das hat Präsident Correa vor zwei Wochen beim lateinamerikanischen Energiegipfel vertreten.
Die Idee der Ecuadorianer stellt die kapitalistische Logik auf den Kopf. Die neue lautet: Geld dafür bekommen, etwas nicht zu tun. Fordern statt fördern. Vor zehn Jahren hätte dieser Plan als exotisch gegolten, doch heute, da der Klimawandel eine anerkannte Tatsache ist, hat er Chancen, verwirklicht zu werden. Feste Zusagen gibt es noch nicht. Doch die Regierung ist erst kurz im Amt, die Idee neu und bislang kaum über die Landesgrenzen verbreitet. „Harrison Ford unterstützt uns“, sagt Acosta heiter. „Indiana Jones gibt alles für ITT – das ist doch schon mal was.“
Es folgt ein Trommelfeuer von Argumenten. Über den unschätzbaren Wert der Biodiversität. Dass auch die Industrieländer die Sauerstoffproduktion des Regenwaldes brauchen. Und dass Öl, das nicht gefördert wird, praktischer Klimaschutz ist. Und dass der Westen, dessen Reichtum auf Kohle, Öl und Schadstoffemissionen basiert, eine historische Verpflichtung hat, armen Ländern beim Umweltschutz zu helfen.
Doch Acosta und seine Mitstreiter müssen nicht nur den internationalen Begehrlichkeiten, vor allem von den Ölgesellschaften aus China, Brasilien und Venezuela trotzen. Der Anspruch, ITT zu lassen, wie es ist, steht auch quer zur Politik der linken Regierungen im Norden Lateinamerikas. Evo Morales und Hugo Chávez etwa setzen auf Verstaatlichung und Armutsbekämpfung durch Rohstoffexporte. Auch die Correa-Regierung hat die Sozialhilfe von 15 auf 30 Dollar im Monat verdoppelt, sie bezahlt das aus Einnahmen aus dem Ölexport. Und es gibt in Ecuador eine starke Lobby, die im Dschungel unbedingt Öl fördern will: die staatliche Gesellschaft Petroecuador und ihr umtriebiger Chef Carlos Pareja. Pareja hält es für „undenkbar, dass Ecuador dort unter der Erde diesen Reichtum hat und auf der Erde so viel Armut herrscht.“
„Für die Petroleros ist es natürlich frustrierend, Öl im Boden zu lassen“, sagt Acosta lakonisch. „Schließlich haben sie gelernt, es rauszuholen und nicht, es drin zu lassen. Die Petroleros sehen nicht das Grün der Bäume im Amazonasbecken, sie sehen das Grün der Dollars, die das Öl bringt. Das ist hier noch immer die Mentalität: dass Entwicklung mehr Öl und mehr Geld bedeutet.“ Acosta weiß, wovon er redet. „Ich kenne das von mir selbst, als ich in den 80er-Jahren Marketingchef von Petroecuador am Amazonas war. Da wollte ich auch mehr Öl, mehr Geld.“ Später leitete er ein Forschungsprojekt über die Amazonasgegend und beriet Indígena-Organisationen. Da, sagt er heute, lernte er den Blick von „der anderen Seite der Stacheldrahtzäune der Ölgesellschaften“ kennen.
Acostas Handy klingelt. In Quito, der Hauptstadt, ist eine Tankstelle leck. Benzin läuft aus, über eine Hauptstraße bis in den Keller eines Hochhauses, in dem der Justizminister sein Büro hat. Ecuador kann sehr klein sein.
Jetzt kommt der Flieger nicht. In Quito ist einem Flugzeug ein Reifen geplatzt, es blockiert die Landebahn. Es geht viel schief in Ecuador. Der Minister hat es jetzt eilig. Er braust in einem Jeep davon, über die Straße, die Texaco 1970 durch den Dschungel gebaut hat.
Zurück bleibt Jaime Galarza. Der 76-Jährige war auch zur Jubiläumsfeier in Lago Agrio geladen. Aus gutem Grund. Galarza war der Erste, der Ende der 60er-Jahre begriffen hat, welche Katastrophe sich in Lago Agrio anbahnte. Er schrieb ein Buch darüber, warum das Öl Ecuador nichts nützen wird, griff darin Texaco und die korrupte Regierung an. Dafür saß er zwei Jahre im Gefängnis. „Ich hatte leider in allem Recht“, sagt er heute. Mitte der 90er-Jahre wurde er Ecuadors erster Umweltminister. In Lateinamerika sind die Wege zwischen Knast und Kabinett manchmal kurz.
„Es ist eine Utopie, das Öl im ITT-Dschungel zu lassen“, sagt Galarza. „Aber wo steht geschrieben, dass Utopien nicht wahr werden können?“