Flüchtlingspolitik in Libyen: Wo die Hoffnung stirbt

Das Land versinkt im Chaos, die Schleuser nutzen das, um Migranten und Flüchtlinge nach Europa zu schmuggeln. Kein gutes Klima für die EU, um Partner zu finden

Der libysche Rote Halbmond birgt am Strand Leichen verunglückter Flüchtlinge Foto: dpa

Jeder der 241 Passagiere auf dem Flug der Libyan Airways erhielt ein persönliches Hygiene-Kit, Unterwäsche, ein Hemd, Jogging-Anzug und Schuhe. Alles gesponsert von der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die 241 Flüchtlinge aus Nigeria, die im August in den Airbus A330 stiegen, waren auf der Heimreise. Sie hatten ihren Traum von Europa aufgegeben, waren an der libyschen Realität zerbrochen und wollten lieber wieder in die Ungewissheit ihrer Heimat zurückkehren.

Jedes ihrer Schicksale ein Mahnung daran, wie schutzlos Migranten in Libyen sind: Einer wurde überfallen, ausgeraubt und angeschossen. Eine zwanzigjährige wurde auf dem Meer, auf dem Weg nach Europa, gestoppt und ins Gefängnis geworfen. Der Zeitung Libya Herald sagte sie „Ich habe nie gedacht, dass Libyen schlimmer sein könnte als zuhause. Ich bin froh, wieder zurückkehren zu können.“ Was sie damit meint, sind die berüchtigten Detainment Centres, Gefängnisse, in denen Migranten eingesperrt werden, um Geld von ihnen zu erpressen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty oder Human Rights Watch haben Dutzende Zeugenaussagen von Folter oder Misshandlung gesammelt, die von libyschen Wächtern an den Insassen begangen werden.

Tatsächlich gilt jeder, der illegal nach Libyen ein- oder ausgereist ist, als Krimineller, der auf unbeschränkte Zeit in Abschiebehaft festgehalten werden kann, ohne Gerichtsurteil oder juristischen Beistand. Das Asylrecht ist bis heute nicht in den libyschen Gesetzen verankert, Abschiebungen werden willkürlich und ohne Anhörung durchgeführt.

Insgesamt 581 Nigerianer hat die IOM 2016 auf diesen freiwilligen Rückführungsflügen in ihre Heimat befördert. Dazu 3.000 Migranten aus Niger und andere aus Senegal, Mali, Burkina Faso, Guinea-Conakry, Ghana, Sudan sowie Gambia. Ein verschwindend kleiner Bruchteil, verglichen mit den etwa 170.000 Flüchtlinge, die bis Dezember 2016 nach Italien übergesetzt waren, während über 3000 Menschen auf der gleichen Fluchtroute ertrunken sind. Doch offizielle Rückführungsabkommen, gibt es in Libyen nicht – schließlich befindet sich das Land im Chaos: Über 300.000 interne Vetriebene (IDP) zählt das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die meisten aufgrund der jahrelangen Kämpfe etwa um die Städte Bengazi und Sirte.

Junges Transitgeschehen

Das Fehlen einer staatlichen Kontrolle in Libyen hat dazu geführt, dass die meisten Flüchtlinge angesichts des EU-Türkei Abkommens die riskante Überfahrt über das Mittelmeer Richtung Europa wählen. Die EU versucht daher, verschiedene Maßnahmen in Libyen durchzuführen, um diese Route zu verschließen. Doch tatsächlich weiß niemand genau, wie viel Flüchtlinge oder Migranten dort auf die Überfahrt warten. Während die europäische Grenzschutzagentur Frontex eine Million Reisewillige vermutet, gehen seriöse Schätzungen von der Hälfte aus. Doch Libyen hat sich erst seit kurzem von einem Aufnahmeland, in dem Bangladeshis, Filipinos und Bewohner des subsaharischen Afrikas Arbeit fanden, zu einem Transitland gewandelt. 2009, vor dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al Gaddafi, lebten dort 2,5 Millionen Migranten. Selbst 2013, als das Land längst instabil geworden war, beherbergte es immer noch etwa 1,7 Millionen.

Die Reise über das Mittelmeer war lange Zeit nichts ungewöhnliches, schon zu Zeiten des Gaddafi-Regimes reisten etwa 40.000 Menschen jährlich über das Mittelmeer nach Europa. Der entscheidende Unterschied: Seit 2013 der Syrien-Konflikt ausgebrochen ist, sind die Krisen in West-Afrika und dem Horn von Afrika dazugekommen.

Für die Flüchtlinge sind zwei Routen nach Libyen entscheidend, die sich je nach politischer Konstellation ändern. Migranten aus Westafrika, etwa Nigeria oder Niger, reisen oft über die Wüstenstadt Sebha im Südwesten Libyens Richtung Küste. Migranten aus Eritrea oder auch dem Sudan selbst reisen via Khartum über die Goldgräbercamps um die Stadt Dongola nach Libyen.

Haben sie einmal die Grenze überschritten, sind sie ein Spielball in lokalen Machtkämpfen: im Süden Libyens zwischen den Tebu- bzw. den Tuareg-Stämmen. Wer sich den falschen Schleusern anvertraut hat, wird von den Stämmen gefangen genommen und erst für ein hohes Lösegeld wieder freigelassen. Im libyschen Machtvakuum, in dem jede Stadt und jedes Viertel erst mal seine eigene Regierung ist, gelten die Migranten vielen als willkommene Einnahmequelle.

Vom IS bedroht

Im Süden hat das etwa dazu geführt, dass die Migranten und ihre Schleuser die Stadt Kufra wegen der Kämpfe dort meiden und lieber weiträumig umfahren. Im Norden dagegen galt die Stadt Ajdabiya lange als logistisches Zentrum der Schleuser, um die Migranten an die verschiedene Ablegeorte an der Küste verteilt zu werden. Selbst der Polizeichef der Stadt war in die Schleuserei verwickelt, wie ein Flüchtling erzählt: „Er ist 50 oder 60 Jahre alt. Er ist sehr grausam. Er brüllt die ganze Zeit und schlägt die Männer.“ Dass Ajdabiya als Zentrale aufgegeben wurde, ist stellvertretend für die Dynamik des Konflikts in Lybien: Die beiden großen Machtpole des Landes, die Haftar-Regierung im Osten und die von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützte Einheitsregierung im Westen bekämpften den Islamischen Staat, der sich in Sirte und Bengasi festgesetzt hatte. Der wiederum versuchte sich in Richtung auf die Hauptstadt Tripoli auszudehnen. Dadurch hatte der IS direkten Zugriff auf die Migrantenrouten.

Tatsächlich nahmen die Islamisten Hunderte von ihnen gefangen und versklavten oder ermordeten sie. Mittlerweile ist die Oasenstadt Bani Walid im Westen das neue Zentrum der Schleuser, da die Stadt fernab der Frontlinie zwischen der Regierung im Osten und der im Westen liegt. Und mit dem entscheidenden Unterschied, dass es von hier aus nur Stunden dauert, die Migranten in die Ablegeorte Subratha und Zawiyah an der Küste zu bringen.

Die wenigen, noch funktionierenden Staatsorgane, die gegen die Schleuser vorgehen könnten, sind heillos überfordert. Wer Kapitän Ashraf, einen der ranghöchsten Offiziere der libyschen Küstenwache auf der Marinebasis in Tripolis, besucht, weiß warum er im Kampf gegen eine millionenschwere Industrie versagt: Er hat lediglich sechs Schlauchboote zur Verfügung. Und: „Wir kontrollieren nur zwei Küstenabschnitte“ – von sechs. Was in den anderen passiert, weiß er nicht, dort herrschen konkurrierende Gruppen.

Partner Italien

Unter Gaddafis Regime sah das noch anderes aus: Er ließ Migranten aus südlichen afrikanischen Ländern nach Libyen einreisen – oder sah über illegalen Grenzübertritte hinweg. Seine Gefolgsleute verdienten an ihrem Transport, die Wirtschaft des Landes konnte billige Arbeitskräfte gut gebrauchen. Libyen boomte, viele Migranten wollten dort Jobs finden. Gleichzeitig nutzte Gaddafi die Migranten, um mit ihnen Europa zu bedrohen. „Soll Europa schwarz werden?“ war eine Phrase, die er düster ausstieß, um Gelder zu erpressen.

Nach einer langen Phase der Isolation Libyens als Terrorstaat gelangte Gaddafi mit diesen Argumenten wieder auf die internationale politische Bühne. 2000 schloss er mit seinem primären Ansprechpartner Italien ein Anti-Terror- und Anti-Immigrationsabkommen, 2008 sogar einen Freundschaftsvertrag. Das führte zu gemeinsamen Patrouillen auf dem Mittelmeer, dem Aufbau elektronischer Kontrollinstrumente an Libyens Südgrenze durch italienische Firmen und italienischer Assistenz beim Dialog mit der EU. Ab 2009 akzeptierte Libyen sogar die Aufnahme von Flüchtlingen, die bei Push-backs durch italienische Marineschiffe an die libysche Küste gebracht wurden.

Diese Politik wurde jedoch nach heftiger internationaler Kritik gestoppt, weil sie gegen geltendes Recht verstieß. Im Prozess „Hirsi vs. Italien“ vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ging es um 200 Menschen, die nach Libyen und von dort aus in ihre Heimatländer abgeschoben worden waren – darunter auch der eritreische Kläger Jamaa Hirsi. 2012 kam das Gericht zu dem Schluss, dass Italien damit gegen das europäische Menschenrechtsabkommen verstoßen habe. Doch zu diesem Zeitpunkt war der Gerichtshof schon von der Geschichte überholt worden. Gaddafi war nicht mehr an der Macht, das Land versank im Chaos, zehntausende Ausländer flohen aus Angst vor Pogromen nach Tunesien, nach Algerien – oder auch nach Europa.

Neue Ansätze

Wer jetzt Migrationspolitik in Libyen betreiben will, muss nicht mehr mit einzelnem Akteur wie Gaddafi rechnen, der 120 Millionen von der EU für seine Rolle als Grenzschützer der EU forderte, sondern einer kaum überschaubaren Zahl von Gruppen. Offiziell fällt die Bekämpfung der Schleuserei unter die Verantwortung der Abteilung zur Bekämpfung irregulärer Migration (DCIM), die – wiederum offiziell – dem libyschen Innenministerium untersteht. Tatsächlich sind es die jeweils vor Ort herrschenden Milizen, die Migranten jagen und in Gefängnisse sperren, um mit ihnen Geld zu machen. Die seit März in Tripoli regierende Einheitsregierung unter dem Premier Fayez al-Serraj hat es bisher nicht geschafft, die 24 landesweiten Gefängnisse unter ihre Kontrolle zu bringen. Laut Schätzungen der EU werden insgesamt 7 Prozent aller Migranten dort festgehalten.

Die EU scheint langsam zum Schluss zu kommen, dass ihre bisherige Politik in Bezug auf Libyen nicht gegriffen hat. Entsprechend formuliert die Europäische Kommission in der Mitteilung an das Parlament und andere Gremien über einen neuen Partnerschaftsrahmen mit Drittländern fünf Säulen: Finanzhilfen in Höhe von 100 Millionen Euro für Projekte; Schutz der Flüchtlinge schon in Libyen; Beihilfe der GNA-Regierung in Bezug auf Regierung und Verwaltung; technische Hilfe und Reform des Sicherheitssektors für Polizei, Strafjustiz und Grenzmanagement. Dabei setzt die EU einen Schwerpunkt: EUBAM, die seit 2013 bestehende Mission zur Unterstützung Libyens zur Grenzsicherung.

Im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sollte diese Mission zusammen mit libyschen Behörden den Grenzschutz verbessern. Dazu zählte der Aufbau interministerieller Arbeitsgruppen, die Ausbildung von Küstenwacheinheiten und technisches Ausrüstung. Doch leider musste die Mission aufgrund der instabilen Lage schon 2014 nach Tunesien umziehen – in so großer Hast, dass dem UN-Sanktionskomitee zufolge Waffen in Tripolis zurückblieben. „Die wollten uns an viel zu kompliziertem technischen Equipment trainiert“, grummelt ein Grenzschützer, der am Flughafen Tripolis Einreisende überprüft. Nur die handfesten Trainingseinheiten für die libysche Küstenwache, die von den 17 verbliebenen EUBAM-Mitgliedern organisiert wurden, lobt er. Die erlernten Boots-Knoten und Sicherungs-Schwitzkästen seien top gewesen. „Die einzigen, die was davon hatten, waren sie selbst. Die haben gutes Geld verdient“, wirft er EUBAM vor.

Tatsächlich ist das Finanzpaket für die Mission angenehm gepolstert. Gerade ist EUBAM-Libyen von der EU neu aufgelegt worden, mit einem Gesamtbudget von 17 Millionen Euro, die bis August 2017 reichen müssen. Damit sollen sie libysche Institutionen bei den Themenfeldern Strafjustiz, Migration, Grenzsicherung und Terrorismusbekämpfung unterstützen. Der Küstenwachchef, Kapitän Ashraf, meint dazu nur: „Die Europäer versprechen uns seit Oktober 2015 finanzielle Unterstützung“. Gesehen habe er bisher keines. Offensichtlich hat die EU ein Problem mit der instabilen Lage im Land, sie will nur staatliche Institutionen unterstützen. Doch die verschwimmen im Chaos der libyschen Machtspiele.

Militär im Mittelmeer

Immerhin scheint die, europäische Grenzschutz-Agentur Frontex ein Standbein in Libyen aufgebaut zu haben: die Behörde arbeitet mit libyschen Grenzschützern in der multilateralen Arbeitsgruppe AFIC (Africa-Frontex Intelligence Community) zusammen und sammelt dort Informationen. Genau wie 2007, als sie auf einer Mission nach Libyen bei Gaddafis Grenzschützern wegen gemeinsamer Abwehr der Migranten vorfühlte.

Eins ist sicher: Europas Sicherheitspolitiker haben genügend Pläne für Libyen in der Schublade liegen. Von einer Ausbildungsmission für libysche Soldaten über einen Einsatz der EU-Polizeitruppe EUROGENDFOR, die als Stabilisierungsinstrument wie in Bosnien oder Afghanistan eingesetzt werden könnte. Das wirkmächtigste Instrument scheint die EU allerdings in der Marine-Operation „EUNavfor Med Sophia“ zu sehen, bei der ein europäischer militärischer Schiffsverband das Schleusen von Menschen über das Mittelmeer unterbinden soll. Stolz berichtete im Januar 2016 Enrico Credendino, Kommandeur der Operation, der EU-Kommission, er habe mit seinen 16 Schiffen und Flugzeugen die Schmuggler abschrecken und 46 – vermutete – Schmuggler festnehmen sowie 67 Boote zerstören können. Wie viele Millionen das gekostet hatte, sagte er nicht.

Die EU teilte Operation Sophia Mitte 2016 noch weitere Aufgaben zu: Sie solle die libysche Küstenwache trainieren und die illegalen Waffentransporte verhindern. Damit könne man zu einem stabileren Libyen beitragen, so die offiziell formulierte Hoffnung. Bis dahin muss die libysche Küstenwache mit Schwimmwesten, Rettungsbojen, Taschenlampen und anderem Gerät auskommen, die ihr Ende November vom deutschen und dem holländischen Botschafter für Libyen überreicht wurden. Die 650 Flüchtlinge im ebenfalls besuchten Gefängnis Tariq al-Matar erhielten auch etwas: Kleidung und Hygiene-Kits. Ein Tropfen auf den heißen Stein – doch immerhin wehrt sich die libysche Regierung gegen die Forderungen der EU-Länder Österreich und Ungarn, Flüchtlinge nach Libyen zurückzuführen oder gar neue Flüchtlingslager im Land aufzubauen.

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