Flüchtlingspolitik der Türkei: Der Türsteher am Bosporus
Das Abkommen zwischen EU und Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen ist das bekannteste seiner Art. Migration ist für beide ein häufiger Streitpunkt.
Der sogenannte EU-Türkei-Deal, also das Abkommen, das die Rücknahme von Flüchtlingen regelt, wurde von Anfang an heftig kritisiert. Die Verhandlungen hatten bereits Ende 2009 begonnen und es war letztlich am 16. Dezember 2013 unterzeichnet worden. Mit der Ratifizierung durch das türkische Parlament am 1. Oktober 2014 wurde es völkerrechtlich verbindlich.
Ein entscheidender Streitpunkt war die Visafreiheit für türkische Staatsbürger in der EU, die nach einer Übergangszeit von drei Jahren, ab Oktober 2017, gelten sollte. Im Gegenzug erklärte sich die Türkei bereit, Flüchtlinge zurückzunehmen, die aus Drittländern über die Türkei nach Europa eingereist waren. Unter dem zunehmenden Druck der stark ansteigenden Flüchtlingszahlen innerhalb der EU einigte sie sich mit der Türkei am 18. März 2016 über die konkreten Bedingungen. Zwei Tage später folgte die Ankündigung: Das Abkommen werde am 1. Juni 2016 voll in Kraft treten.
In Zukunft können also alle abgelehnten Asylbewerber, die über die Türkei und die Balkanroute nach Europa gekommen waren, zuerst in die Türkei und von dort in die entsprechenden Drittländer zurückgeschickt werden. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU bis zu 72.000 Syrer von der Türkei zu übernehmen und diese in Europa zu verteilen und ein neues Kapitel für den Zugang zum Binnenmarkt aufzuschlagen. Drei Milliarden Euro an Hilfsgeldern und die Visafreiheit für türkische Staatsbürger gibt es obendrauf.
Im Gegenzug versprach die Türkei, 72 Punkte zu erfüllen. Darunter: die Verbesserung der Kontrolle der türkischen Grenzen und der Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Errichtung von Aufnahme-, Sprach- und Abschiebezentren, die Bemühungen im Kampf gegen Schlepper zu verstärken und den Abschluss bilateraler Rückübernahmeabkommen mit anderen Ländern, um Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer abschieben zu können. Kurz nachdem das Abkommen in Kraft getreten war, kündigte der türkische Minister für EU-Angelegenheiten Volkan Bozkir an, dass die Türkei die Visafreiheit im Oktober oder November 2016 erwarte, falls nicht, bestünde die Möglichkeit, das Abkommen einseitig aufzukündigen.
Bilaterale Abkommen in Europa, Afrika und Asien
In Europa hat die Türkei bereits bilaterale Rückübernahmeabkommen mit Griechenland (2002), Rumänien (2004), der Ukraine (2005), Bosnien-Herzegowina (2012), Moldawien (2012), Weißrussland (2013) und Montenegro (2013).
Außerhalb Europas hat die Türkei Rückübernahmeabkommen mit Syrien (2001), Kirgistan (2003), Pakistan (2010), Russland (2011), Nigeria (2011) und dem Jemen (2011). Wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 ist die Türkei nicht berechtigt, Syrer nach Syrien abzuschieben. Dennoch hat die Türkei viele unter dem Vorwand der „freiwilligen Rückkehr“ nach Syrien zurückgeschickt.
Dem türkischen Außenministerium zufolge wurden die Rückführungsabkommen mit Nigeria, dem Jemen und Pakistan weder ratifiziert noch angewandt. Kurz nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens ratifizierte das türkische Parlament am 7. April 2016 das Rückübernahmeabkommen mit Pakistan. Dadurch wurde die Rückführung von Menschen mit pakistanischer Staatsbürgerschaft, die von Europa als Wirtschaftsmigranten betrachtet werden, ermöglicht.
Staatsangehörige der Länder, mit denen die Türkei funktionierende bilaterale Rückübernahmeabkommen hat, werden theoretisch umgehend in die entsprechenden Länder abgeschoben. Dennoch sieht es so aus, als ob die Türkei diese Menschen für unbestimmte Zeit in Schubhaft festhält. Wo und unter welchen Umständen, dazu äußert sich die türkische Regierung nicht. Die Anzahl der Fälle von Menschenrechtsverletzungen ist enorm.
Die Türkei hat ein viel größeres Interesse daran, über die Visafreiheit zu sprechen. Den Informationen des türkischen Amtes für Migration zufolge wurden seit dem Inkrafttreten des Abkommens 721 Menschen, die von der Türkei aus die griechische Küste erreichen konnten, von der EU zurückgeschickt. Die meisten von ihnen stammen aus Pakistan (354), gefolgt von Syrien (82), Afghanistan (72) und Algerien (68).
Bislang wurden 1.139 Menschen von Griechenland in die Türkei im Rahmen des Türkei-Griechenland-Abkommens abgeschoben. Jedenfalls basierten alle Rückführungen bisher, egal ob freiwillig oder unfreiwillig, auf einem der folgenden drei Gründe: Die Person stellte keinen Asylantrag, zog den Asylantrag infolge eines negativen Bescheides nach der ersten Anhörung zurück, oder wurde nach Überprüfung der Fluchtgründe abgelehnt. Den türkischen Behörden zufolge wurden im Gegenzug 2.330 Syrer von Europa übernommen, wobei Deutschland (937) den größten Anteil hat. Die Europäische Kommission gibt an, dass bis Ende September im Rahmen des 1:1 Abkommens 1.614 Syrer aus der Türkei von Europa übernommen wurden.
Frontex-Einsatz
In öffentlichen Stellungnahmen gegenüber der EU und der Bundesrepublik Deutschland behauptet die türkische Regierung, dass sich mit Stichtag 17. November 2016 fast drei Millionen syrische und weitere 400.000 iranische und afghanische Flüchtlinge in der Türkei aufhalten. Wie diese Zahlen zustande kommen, wird nicht offengelegt. Von diesen Flüchtlingen leben rund eine Viertel Million in Lagern, die übrigen in den Städten.
Viele Beobachter bezweifeln diese Zahlen mit der Begründung, dass die türkischen Statistiken nicht jene berücksichtigten, die weiter nach Europa geflüchtet sind. 2015 und 2016 veröffentlichte die EU-Grenzschutzagentur Frontex monatlich Zahlen über die illegale Einwanderung von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln. An manchen Tagen setzen bis zu 2.000 Flüchtlinge von der türkischen Westküste nach Griechenland über. Seit Abschluss des Flüchtlingsabkommens im März 2016 hat sich die Zahl auf unter 50 pro Tag reduziert.
Als NATO-Partner und möglichem EU-Beitrittskandidat gab es schon lange Zeit eine Zusammenarbeit der EU-Länder mit der Türkei auf geheimdienstlicher und polizeilicher Ebene. Die Türkei unterzeichnete am 28. Mai 2012 einen Kooperationsvertrag mit Frontex, der zum Ziel hat, dass die Türkei und Frontex operative Erfahrungen und Kenntnisse bei der Grenzkontrolle sowie strategische Informationen austauschen. Die Zusammenarbeit von Frontex mit den türkischen Behörden zielte darauf ab, gemeinsame Projekte zu entwickeln, um die kollektiven Kräfte „im Kampf gegen illegale und irreguläre Migration“ zu stärken. Das Abkommen sollte auch die Möglichkeiten ausloten, gemeinsam koordinierte Rückführungsmaßnahmen in der Ägäis zu entwickeln.
Abgesehen von Frontex sind auch NATO-Schiffe zur Unterstützung und Überwachung in der Ägäis vor Ort. Als im Oktober 2015 die Migrationsbewegung von der Türkei nach Griechenland ihren Höhepunkt erreicht hatte, brachte Deutschland seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Türkei und Frontex nicht ausreichend miteinander kooperieren würden. Im selben Monat kündigte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri an, dass Frontex einen Verbindungsoffizier für Ankara bestellen werde. Zum ersten Mal wurde ein Frontex-Verbindungsoffizier in ein Nicht-EU-Land entsandt. Beide Parteien sahen das als Stärkung ihrer Zusammenarbeit.
Leggeri teilte mit, man würde an einer neuen Gesetzgebung arbeiten, die es Frontex ermögliche, Operationen in türkischem Hoheitsgebiet durchzuführen. Das könnte jedoch, so Leggeri, wegen des Ratifizierungsprozesses im Europäischen Rat und im Europaparlament, zwei bis drei Jahre dauern. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am 10. März 2016, dass man mit der Türkei übereingekommen wäre, die Überwachung der Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu intensivieren, um das NATO-Mitglied Türkei vor Bedrohungen seines Nachbarlandes Syrien zu schützen.
Grenzkontrollen
Das EU-Türkei-Abkommen verlangt zudem, dass Schleuser von türkischen Strafjustizbehörden stärker verfolgt werden. Die Zahlen der türkischen Küstenwache weisen darauf hin, dass die Versuche, das Meer zu überqueren um nach Europa zu gelangen, deutlich zurückgingen, nachdem das Abkommen im März 2016 in Kraft getreten war. Auch sank die Zahl der Menschen, die von der Türkei aus Griechenland erreichten aufgrund der gestiegenen Anstrengungen der türkischen Küstenwache in Verbindung mit der Kooperation von Frontex und NATO in der Ägäis.
Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben 2016 nur etwas mehr als 171.000 Menschen nach Griechenland übergesetzt. Das sind viel weniger als die Vergleichszahl von 740.000 im Jahr 2015. Das UNHCR beziffert zwischen 1. Januar und 10. Dezember 2015 mehr als 792.000 Menschen, die Griechenland illegal auf dem Seeweg erreicht hätten. Allein im Oktober 2015 und trotz gefährlicher Wetterbedingungen überquerten mehr als 150.000 Menschen das Mittelmeer von der Türkei nach Griechenland (verglichen mit 8.500 im Oktober 2014). Die meisten, die ankamen waren Syrer. Während die Zahl derer, die versuchten die Ägäis zu überqueren sank, riskierten aber Tausende die viel gefährlichere Mittelmeerroute von Libyen aus, was 2016 den Rekord als tödlichstes Jahr für Migranten beschert.
Einer der 72 Punkte des EU-Türkei-Abkommens ist, dass der Zugang zur Türkei für die Bürger jener Länder erschwert werden soll „aus denen illegale Einwanderer in großer Zahl in die EU einreisen“. Nach wiederholten Warnungen der Vereinigten Staaten und der EU, dass die Türkei ihre Grenze zu Syrien schließen müsse, wurde mit dem Bau einer Mauer entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze begonnen, wie in Israel an der Grenze zum Westjordanland.
Von dem 911 Kilometer langen Grenzabschnitt sind 200 Kilometer Grenzwall von Hatay bis Kilis bereits fertiggestellt. Die übrigen 700 Kilometer sollen im ersten Halbjahr 2017 fertig werden. Die Kosten werden auf zwei Milliarden Euro geschätzt. Die Mauer besteht aus mobilen, sieben Tonnen schweren Betonblöcken mit NATO-Draht als Abschluss: Drei Meter hoch und zwei Meter breit. Zusätzlich sind ein elektronisches Überwachungssystem, Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Drohnen vorgesehen. Nach der Fertigstellung sollen private Sicherheitsfirmen mit der Überwachung beauftragt werden.
Migranten, die Europa über die Türkei erreichen wollen, wählen entweder den Seeweg über die Ägäis zu einer der griechischen Inseln, von denen einige von ihnen sehr nahe an der türkischen Küste liegen, oder sie überqueren den Grenzfluss Meriç (türk.) bzw. Evros (griech.), oder über den Landweg entlang eines 20 Kilometer breiten Grenzstreifen. Dort haben die griechischen Behörden bereits vor einigen Jahren einen ersten Grenzzaun errichtet.
Frontex operiert auch entlang der Festlandgrenzen im Einsatz und ist autorisiert, im Auftrag der griechischen Armee zu handeln. Im Norden grenzt Griechenland an Bulgarien, das ebenso begonnen hat Grenzzäune zu errichten, die Grenzüberwachung erheblich verstärkt hat und sogar lokalen Bürgerwehren für Patrouillen einsetzt. Diese Milizen sind dafür bekannt, dass sie Migranten wieder hinter die Grenzlinien befördern. Es wird von Menschen berichtet, die zwischen den beiden Ländern gestrandet und letzten Endes verhungert sind.
Internierung
Nach offiziellen Angaben des türkischen Amtes für Migration gibt es derzeit in 17 Städten 19 Abschiebelager mit einer Kapazität von 6.810 Plätzen. Diese sind fast voll, obwohl es keine genauen Angaben über die Anzahl der Internierten gibt. Es gibt Abschiebelager, wie das in Kumkapi in Istanbul, das nicht überfüllt ist, eines der ältesten Abschiebelager in der Türkei.
Am 19. November 2016 gelang es 123 Migranten von dort auszubrechen, nachdem sie ihre Zellen in Brand gesetzt hatten. Während der Löscharbeiten der Feuerwehr durchbrachen die Migranten das Hoftor und flohen, trotz der Warnschüsse der Sicherheitskräfte. 20 Entflohene wurden von der Polizei in der Nachbarschaft aufgegriffen und zurückgebracht. Bereits 2014 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt, dass in Kumpapi Verletzungen der Freiheitsrechte, der Sicherheit, des Rechtes auf Berufung, des Folterverbotes und Misshandlungen vorgekommen waren.
Aufgrund der aus dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei entstandenen Verpflichtung werden neue Internierungslager errichtet. In fünf weiteren Städten sollen noch 2016 Lager mit einer Gesamtkapazität von 7.600 Plätzen eröffnet werden. Außerdem sollen 2017 über das Land verteilt acht Abschiebelager mit einer Gesamtkapazität von 2.720 Plätzen eröffnet werden. Das Amt für Migration rechnet somit 2017 mit einer Gesamtkapazität der Internierungszentren von 17.130 Plätzen.
Medienberichten und Amnesty International zufolge, deportiert die Türkei Flüchtlinge nach Syrien, Iran und Irak. Es komme häufig vor, dass Flüchtlinge in den Internierungslagern gezwungen werden, Dokumente zu unterschreiben, die sie nicht wirklich verstehen. Mehr als einmal wurden Flüchtlinge aus dem Askale-Internierungslager in Erzurum über den Grenzübergang Cilvegözü bei Reyhanli in der Provinz Hatay zurück nach Syrien abgeschoben.
Zudem gibt es Aussagen, dass am 29. November 2016 mehr als 80 Syrer, unter ihnen 9 Frauen und 3 Kinder von Erzurum nach Hatay transportiert und an der syrischen Grenze abgesetzt wurden. Da die Grenze aber auf syrischer Seite nicht unter staatlicher Kontrolle ist, verlangte die dort herrschende radikal-islamistische Miliz Ahrar Al-Sham Auskunft über die ethnische Zugehörigkeit der Häftlinge. Abgesehen von drei Christen wurde der Rest der Gruppe am folgenden Tag zurück in die Türkei geschleust. Das türkische Amt für Migration und der Türkische Rote Halbmond verlangen, dass jede „freiwillige“ Rückkehr nach Syrien unter dem Schutz vom UNHCR garantiert werden soll, aber das UNHCR weist die Erfüllung dieser Forderung als „unmöglich“ zurück.
Finanzielle Hilfe
Nach dem Gipfel zwischen der EU und der Türkei am 29. November 2015, kündigte Europa an, finanzielle Hilfe in der Höhe von drei Milliarden Euro bis Ende 2017 zur Verfügung zu stellen. Im März 2016 sagte die EU weitere drei Milliarden bis Ende 2018 zu, falls diese ersten drei Milliarden nicht ausreichen würden. Diese Gelder sollten Syrern zugutekommen und für medizinische Versorgung, Bildung, Infrastrukturmaßnahmen und Lebensmittel verwendet werden. Im September 2016 erklärte der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Christos Stylianides, dass von den drei Milliarden Euro bereits 652 Millionen freigegeben wurden und, dass dies „das größte humanitäre Hilfsprogramm“ sei, das „die EU jemals finanziert“ hätte.
Die türkische Regierung kritisierte Brüssel für die langsame und indirekte Freigabe der Mittel, behauptete, dass die Höhe des Betrages nicht stimme und dass es tatsächlich nur 181 Millionen gewesen wären. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan griff Europa wiederholt an, indem er beklagte, dass die Türkei bisher beinahe zehn Milliarden Euro an Hilfsgeldern für Syrer ausgegeben habee. Ein Betrag, der sich von sechs Milliarden in einer früheren Äußerung, auf schließlich 13 Milliarden in einer späteren erhöht hatte.
Im Vergleich: Das UNHCR beziffert den Gesamtbetrag der humanitären Hilfe, die von der EU an die Türkei im Zuge der Syrienkrise seit ihrem Ausbruch geflossen ist, auf 583 Millionen Euro mit Stand vom September 2016. Im Oktober 2016 erklärte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker in einem Brief, dass die bisher freigegeben Mittel 652 Millionen betragen, von denen 467 Millionen Euro bereits ausgegeben wurden. Es handle sich dabei um eine Teilsumme von 1,252 Milliarden Euro, die für insgesamt 34 konkrete Projekte zugesagt worden war.
2009 gründete die türkische Regierung die „AFAD“, eine Behörde für Krisen- und Katastrophenmanagement, die derzeit für die Flüchtlingslager und andere Flüchtlingseinrichtungen verantwortlich ist. AFAD erwartet Unterstützung von der EU für die Errichtung von Schulen, medizinischer Versorgung und Hilfe für Flüchtlinge, die sich auf der syrischen Seite der Grenze befinden. Eines dieser neuen Projekte ist eine Geldkarte, die jeder registrierte Flüchtling erhält. Diese Karte wird mit ungefähr 100 Lira, also umgerechnet 27 Euro, pro Monat aufgeladen, um damit Lebensmittel kaufen zu können. Das Projekt wird in Kooperation mit dem türkischen Roten Halbmond durchgeführt. Die staatlich registrierten Flüchtlinge erhalten einen Personalausweis, der sie berechtigt, sich in türkischen Krankenhäusern kostenlos behandelt zu werden. Laut AFAD-Leiter Fuat Oktay wirken sich die hohen Kosten, die für die Sozialversicherungsträger entstehen, jedoch in jenen Städten, in denen viele syrische Flüchtlinge leben, negativ auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung aus. Deshalb gestattet die Türkei nun syrischen Ärzten, ihre Landsleute zu behandeln.
Das Problem mit der Visafreiheit
Gleich nachdem das EU-Abkommen in Kraft getreten war, konzentrierte die Türkei ihre Anstrengungen darauf, all jene Punkte zu erfüllen, die Voraussetzung sind, um türkischen Staatsbürgern den visafreien Zutritt zur EU zu gewähren. Damit die Visafreiheit umgesetzt wird, müssen noch sieben der 72 Punkte erfüllt werden. Darunter: der Abschluss eines operativen Kooperationsabkommens mit der EU-Polizeibehörde EUROPOL, Datenschutzregeln nach EU-Standards, die Einführung von EU-Normen entsprechenden Reisepässen mit biometrischen Daten für türkische Staatsbürger, die Umsetzung der (von der Türkei) beschlossenen Strategie und des Aktionsplanes gegen Korruption, sowie die Umsetzung der Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO).
Am wichtigsten aber ist die Überarbeitung der türkischen Gesetze und Praktiken gegen den Terrorismus entsprechend europäischer Standards, was eine Anpassung der Definition von Terrorismus beinhaltet, um den Aktionsrahmen besser einzugrenzen. Das ist auch der Punkt, der von der Türkei am heftigsten kritisiert wird. Seit dem Putschversuch im Juli war die Türkei heftiger Kritik ausgesetzt wegen der Säuberungsaktionen und Massenverhaftungen. Hier will die Türkei aber keine Zugeständnisse machen, fühlt sich im Recht, sich selbst und ihre Grundsätze zu verteidigen und wirft Europa Heuchelei und Verständnislosigkeit vor.
Schlepperei und Menschenschmuggel
Als die Zahl der Menschen, die Europa auf dem Seeweg erreichen wollten anstieg, initiierte die türkische Küstenwache 2015 die „Aktion sicheres Mittelmeer“ und die „Aktion Hoffnung in der Ägäis“. 2014 wurden nach Informationen der türkischen Küstenwache 574 Vorfälle im Zusammenhang mit Migranten und Schlepperei registriert. Dabei wurden 106 Schlepper festgenommen. 2015 stieg die Zahl der Fälle auf 2430 und 190 Schleuser. 2016 waren es bis zum November 762 Fälle, 89 Schlepper wurden verhaftet. Die Zahl der Migranten, die in der Ägäis aufgegriffen wurden, sank während der vergangenen beiden Jahre um mehr als die Hälfte.
Der türkische Rote Halbmond gibt an, dass insgesamt 206.000 Flüchtlinge beim Verlassen der Türkei aufgegriffen und mehr als 5.000 Schlepper festgenommen wurden. Diese Zahlen beziehen sich nicht nur auf die Migrationsbewegungen in der Ägäis und im Mittelmeer, sondern auch im Osten, Süden und Südosten der Türkei. Das Amt für Migration beziffert die verhafteten Schlepper 2014 mit 1.506. Im Jahr darauf waren es 4.471. 2016 sind es bis November 3.052. Es wurden härtere Strafen für Schlepper angekündigt. So sollen Schlepper, die für einen Todesfall verantwortlich sind, mit bis zu 16 Jahren Haft bestraft werden können.
Es gibt auch Nachweise für extreme Maßnahmen, die in den Grenzregionen von der türkischen Armee ergriffen werden, wie den Einsatz von Schusswaffen. „Im März diesen Jahres erfuhren wir erstmalig davon, dass türkische Grenzposten auf Familien, die die Grenze überqueren wollten, schossen und diese töteten“, berichtet Gerry Simpson von Human Rights Watch. „Seitdem ist es beinahe unmöglich geworden, in die Türkei zu flüchten.“
Vor dem Abkommen mit der EU war es für türkische Behörden Usus, bei Schlepperei einfach wegzusehen. Geschäfte, die gefälschte und nichtfunktionierende Schwimmwesten produzierten, waren der Polizei bekannt. Es wurde von Flüchtlingen berichtet, die vor den Augen der Sicherheitskräfte und ohne deren Eingreifen versuchten, das Meer zu überqueren. Im September 2015 starteten Flüchtlinge eine Initiative „Crossing no more“ (kein Überqueren mehr) als Antwort auf die Toten im Mittelmeer. Um diese Initiative zu torpedieren, verfrachteten türkische Sicherheitskräfte Flüchtlinge aus Istanbul in Busse und luden einige von ihnen nahe Izmir ab, wo sie beinahe aufgefordert wurden, das Meer zu überqueren. Vor dem Abkommen wurden Flüchtlinge, die von der türkischen Polizei, Gendarmerie oder Küstenwache festgenommen worden waren, zuerst in kleinere, nähere Haftanstalten gebracht und dann, üblicherweise nach ein paar Tagen oder sogar am selben Tag noch, mit dem Bus in anatolische Städte gebracht, wo sie „abgesetzt“ wurden.
Seit Inkrafttreten des EU-Abkommens wurde in Dikili, das Lesbos gegenüber liegt, ein Auffanglager errichtet, wo Flüchtlinge, die von Griechenland zurückkommen, registriert werden. Dieses und weitere Lager werden mit Mitteln des „Instruments für Heranführungshilfe“ (IPA) der EU finanziert. Ebenso mit Unterstützung von IPA-Geldern initiierte die Türkei 2011 das Projekt „Opfer von Menschenhandel“, das Betroffenen Schutz und Hilfe geben und ein Bewusstsein für die Problematik schaffen soll. Von 2014 bis 2017 läuft ein Projekt, um den Kampf gegen Schlepper politisch, rechtlich, technisch und informativ zu unterstützen, das ebenfalls mit EU-Geldern (ICSP) finanziert wird. Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Moldawien, Pakistan und Albanien nehmen daran teil.
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