Flüchtlingsleben (II): Marijas Brief
Sie ist 15, gut integriert - und ohne Zukunft in Deutschland: Die Serbin Marija Kurtic hat einen Brief an die Hamburger Abgeordneten geschrieben. Doch die stimmten gegen sie. Teil II der taz.nord-Serie über das Leben von Flüchtlingen.
HAMBURG | taz Sie haben sich ein Blatt Papier genommen, mit Bleistift Hilfslinien gezeichnet, bei jedem Großbuchstaben haben sie mit dem Füller einen kleinen Schnörkel gemacht, und am Ende die Linien wieder wegradiert. Dann haben sie den fertigen Brief 121 Mal kopiert und verschickt. "Liebe Abgeordnete", steht da, "wir sind Marija und Salijana Kurtic. Wir sind 15 und 18 Jahre alt." Der Brief ist eine Petition, eine Bitte an die Hamburger Politik, in Deutschland bleiben zu dürfen.
Doch auch diese Bitte wird wohl keinen Erfolg haben. Familie Kurtic Duldung ist vor einer Woche abgelaufen, ihre erste Petition hat die Hamburger Bürgerschaft schon abgelehnt, jetzt können sie jederzeit abgeschoben werden. Marija lacht, in ihren Augen glitzert es, und man fragt sich, ob das Tränen sind. Hier im Flüchtlingslager Billstedt im Hamburger Osten wohnen sie zu fünft in zwei Zimmern, der kleine Bruder ist gerade am Schlagzeug, die Eltern bei der Anwältin. "Sie wollen nichts unversucht lassen", sagt Marija.
Familie Kurtic stammt aus Serbien, sie sind Roma, die Kinder wurden in Deutschland geboren. 2003 mussten sie schon einmal zurück. Sie hatten bei der Ausländerbehörde unterschrieben, dass sie "freiwillig" ausreisten, nur so war es ihnen möglich, irgendwann wieder nach Deutschland zu kommen. Wer einmal abgeschoben wurde, muss für immer wegbleiben. In den sieben Jahren in Serbien haben die Kinder kaum Serbisch gelernt, die meisten Schulleiter wollten sie nicht aufnehmen. "Es ist, als würde auf meiner Stirn immer ,Roma' stehen", sagt Marija. Einmal, auf einem Gemüsemarkt im südserbischen Leskovac, kamen zwei Männer auf sie zu. Sie boten ihren Eltern 2.000 Euro. Für beide Töchter. Ein paar Wochen später machten sie sich wieder auf nach Deutschland, "nach Hause", sagt Marija.
Seit fünf Monaten wohnen sie in diesem Flüchtlingsheim, die Kinder besuchen die Gesamtschule in Mümmelmannsberg, Marija die neunte Klasse. "Mathe und Deutsch laufen sehr gut", sagt sie, "nur Physik und Chemie machen manchmal Probleme." Oft wird sie gefragt: "Kommst du aus Rom?" Marija lacht. "Dann sage ich, ich bin Zigeunerin."
Wenn sie ihre Hausaufgaben fertig hat, nimmt sie am liebsten mit ihrer Schwester den Bus, der einmal die Stunde fährt, zum Billstedt-Center. Dann durchstreifen sie gemeinsam H&M und New Yorker, probieren Kleider an und schießen Fotos von sich. Eins hängt im Schlafzimmer über ihren Betten, sie tragen darauf bodenlange, tief ausgeschnittene Abendkleider, unter ihren Achseln hängen noch die Preisschilder.
Kindergeschrei dringt vom Hof, ihr Wohnzimmer ist vollgestellt mit alten Möbeln, die der Flüchtlingsrat besorgt hat. Von den zwei Fernsehern funktioniert einer, Marija hat das RTL-Nachmittagsprogramm zu Beginn des Besuchs auf stumm gestellt.
Sie sagt, sie fühle sich wohl hier im Heim in Billstedt. Vier Neubauten mit Laubengängen umgeben in der Mitte einen Spielplatz, etwa die Hälfte der Bewohner sind Kinder. Hier habe sie Freundinnen, auch aus Serbien, auch Schwestern, auch 15 und 18 Jahre alt. Sie gehen gemeinsam auf die Kundgebungen, die der Flüchtlingsrat organisiert. Oder auf den Hamburger Dom. Dann fahren sie auf dem "Höllenblitz" und essen Schoko-Bananen.
Es ist etwa einen Monat her, ein Mittwochabend, da saß Marija mit ihrer Familie in der Hamburger Bürgerschaft. Es hieß, sie müssten sich gedulden, ihr Petitionsantrag sei der letzte Punkt auf der Tagesordnung. Gegen 22 Uhr stellten sich Männer von der Security hinter sie, und plötzlich ging alles sehr schnell. Eine Nummer wurde aufgerufen, ein kurzes "Wer stimmt dagegen?", Hände gingen nach oben und, zack, die Petition war abgelehnt. "Ich hab' mich so anders gefühlt, die Politiker haben geguckt, als wär ich eine Gefahr für die, als würde ich sie gleich mit irgendetwas bewerfen", sagt Marija. Dass die neue Petition, die nur sie und ihre Schwester betrifft, mehr Erfolg hat, daran glaubt sie nicht mehr.
Statistiken gehen von 700 bis 1.000 Sinti und Roma aus, die in Hamburg leben und akut von Abschiebung bedroht sind. "Man merkt, dass man ständig irgendwohingedrückt wird, wo man nicht hin will", sagt Marija. Die Mutter ist in Therapie, mittlerweile greift sie zu Antidepressiva. Regelmäßig versuchen Initiativen, ein dauerhaftes Bleiberecht für Roma durchzusetzen. Vergeblich.
Nach der Sitzung ist Marija mit ihrer Schwester zu Michael Neumann gelaufen, dem Innensenator von der SPD. Sie haben sich vor ihn gestellt und gefragt, warum sie nicht in Deutschland bleiben dürfen. Sie seien doch hier geboren, sie würden Deutsch perfekt sprechen und Serbisch fast gar nicht, sie seien doch integriert. "Aber der Neumann hat die ganze Zeit so politisch geredet, er hat nie so eine richtige Antwort gegeben, sondern Wörter benutzt, die ich nicht verstehe", sagt Marija. Dann habe er noch gesagt, dass sie ja nicht ganz plötzlich abgeschoben würden. Ein bis zwei Wochen im Voraus würde ihnen Bescheid gegeben.
Flüchtlingsgeschichten handeln immer vom Kommen, Gehen und Bleiben. Wer gehen muss und wer bleiben darf und wer sich noch gedulden muss, bis endgültig über ihn entschieden wird, das regelt das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 2010 gingen bundesweit mehr als 48.000 Asylanträge über den Tisch, da kann nicht jedes Einzelschicksal angemessen abgewogen werden, auch nicht das der minderjährigen Flüchtlinge.
Wer als Kind nach Deutschland kommt, integriert sich besser, lernt schneller Deutsch, kann eine Ausbildung absolvieren oder ein Studium, arbeiten und Steuern zahlen. Laut Ausländerbehörde leben in Hamburg 1.240 Jugendliche, die sich noch im Asylverfahren befinden oder geduldet werden. Im letzten Jahr haben die deutschen Innenminister beschlossen, den gut integrierten von ihnen ein eigenes Bleiberecht zu ermöglichen. Im Juli dieses Jahres trat das neue Gesetz in Kraft. Wer sechs Jahre lang in Deutschland gelebt und "erfolgreich" die Schule besucht hat, darf bleiben, auch wenn sein Asylantrag abgelehnt wurde. Marija Kurtic hat die ersten sieben Jahre in Deutschland gelebt, doch danach sieben in Serbien. Das Gesetz kann sie nicht schützen.
"In Serbien erwartet uns nichts, außer Armut, Elend und Sorgen. Bitte geben Sie uns wenigstens die Möglichkeit, einen Abschluss zu machen und schieben Sie uns nicht vorher ab", steht in dem Brief. Darunter hat sie fein säuberlich unterschrieben.
Man könnte es auch einen Abschiedsbrief nennen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“