: Fluchtwelle in Tirana
■ Schüsse vor der deutschen Vertretung / Chinesische Botschaft liefert Flüchtlinge an albanische Behörden aus / Mindestens 150 Flüchtlinge in ausländischen Botschaften / Krisenstab in Bonn
Berlin (dpa/afp) - Im Kugelhagel albanischer Sicherheitsbeamter kletterten in der Nacht zu Montag vier Zufluchtssuchende über die Mauer zur bundesdeutschen Botschaft in Tirana. Wenig später durchbrachen Flüchtende mit einem Lastwagen das Tor zur deutschen Vertretung. Hilfe suchten flüchtende Albaner gestern auch in zahlreichen anderen ausländischen Botschaften in ihrer Hauptstadt darunter tragischerweise auch in der Vertretung der VR China. Wie die römische Zeitung 'La Repubblica‘ meldet, hat die chinesische Vertretung inzwischen fünf Flüchtlinge an die befreundeten albanischen Behörden ausgeliefert. Der Übergabe seien Verhandlungen vorausgegangen, über deren Inhalt allerdings nichts bekannt wurden.
Mindestens 150 Menschen hatten sich bis gestern Nachmittag in die Vertretungen Italiens, Polens, Frankreichs, der Türkei, Griechenlands, Bulgariens, der DDR und der Tschechoslowakei geflüchtet. In der bundesdeutschen Botschaft, wo sich allein 83 Flüchtlinge aufhalten, wird ein durch Schüsse Verletzter behandelt. Rund um die Botschaften sind Sicherheitskräfte postiert, die auf Flüchtende schießen.
Offenbar folgte die Massenflucht auf ausgedehnte Demonstrationen in Tirana am vergangenen Wochenende. Das letzte orthodox-kommunistische Regime in Europa hatte erst vor zwei Monaten tiefgreifende Reformen versprochen. Danach sollten alle einen Reisepaß erhalten, das Religionsverbot sollte aufgehoben, private Wirtschaft in kleinem Rahmen zugelassen und der Aufbau eines unabhängigen Rechtssystems in Angriff genommen werden.
Doch die Unzufriedenheit über die zögerliche innere und äußere Öffnung hielt seither an. So kommen offensichtlich nur ausgewählte Personen in den Genuß des neuen Paßgesetzes, das angeblich für alle Bürger gelten soll. Trotz der rigorosen Informationssperre gelangten in letzter Zeit mehrfach Berichte über oppositionelle Demonstrationen ins Ausland. Am 11. und 14.Januar hatten in mehreren Städten Tausende von Demonstranten das Ende des Regimes verlangt. In der nordalbanischen Stadt Shkoder hatten Demonstranten versucht, ein Stalin-Denkmal umzustürzen. Im Mai ließ die Staats- und Regierungsspitze noch eine gefährliche Warnung los. Sie versicherte, „gegen antistaatliche und antisoziale Elemente, die vom Umsturz träumen, müsse unnachgiebig vorgegangen“ werden.
Möglicherweise sind die jetzt in die Botschaften geflüchteten Albaner auch durch die Ausreise der sechs albanischen Popaj-Brüder zu diesem Schritt ermutigt worden. Die sechs Flüchtlinge hatten sechs Jahre in der italienischen Botschaft in Tirana verbracht und durften erst Ende April ohne Bedingungen das Land verlassen. Bis dahin hatte die Regierung in Tirana aus Angst vor Nachahmern die Auslieferung der Popaj-Brüder verlangt.
Erst vor vier Wochen hatte Albanien sein Interesse an einer KSZE-Mitgliedschaft formuliert. Jetzt muß sich das Regime die Verletzung ausgerechnet aus der Helsinki-Akte der KSZE vorwerfen lassen.
Auf Anweisung von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wurde gestern in Bonn ein Krisenstab zur Koordinierung aller weiteren Maßnahmen gebildet. Der albanische Botschafter wurde mehrfach ins Auswärtige Amt bestellt. Die Bundesregierung protestiert „schärfstens“ gegen den Schußwaffengebrauch. Die EG-Runde für politische Zusammenarbeit will sich heute in Brüssel mit den Vorfällen befassen.
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