Finanzielle Zwangsjacke für Anti–Psychiater

■ Zehn Jahre nach der Auflösung der psychiatrischen Anstalten in Italien: Die Gesetze sind gut - doch mit der Anwendung hapert es / Zuwenig Gelder für ambulante Versorgungsformen / Tagung der deutschen und italienischen Anti–Psychiater in Arezzo zum Stand der Reformbewegung

Von P. Gschwendter und S. Risse

Cortona (taz) - Von Cortona aus hat man eine weite Sicht über das Chianatal und auf den Lago Trasimeno herab. Die mittelalterliche Stadt, an den Hängen des schroffen Appenins gelegen, hat die Zeiten scheinbar unberührt überdauert. Die Bewohner sind jedoch keinesfalls verschlafen. Corona hat sich früh schon durch fortschrittliche Initiativen ausgezeichnet. So ist die „denuklearisierte“ Stadt Organisatorin des diesjährigen nationalen Friedensmarsches. Demnächst soll sie Sitz eines Forschungs– und Studienzentrums werden, das dem Urvater der Reformpsychiatrie, Franco Basaglia, gewidmet sein wird. Dieses Zentrum soll in Zukunft den italienischen Zweig der „Deutsch–italienischen Gesellschaft für geistige und seelische Gesundheit“ beherbergen. Der Verein wurde im April letzten Jahres in Cortona gegründet und versammelt Psychiatrie–Experten, Fachleute und Politiker aus beiden Ländern. Ende Februar trafen sie sich nun in Cortona, um Bilanz zu ziehen. Eine breite politische Bewegung wie die „Psychiatria Democratica“ in Italien hat es in der BRD nie gegeben. Die Psychiatriereformen der letzten Jahre kamen - alter deutscher Tradition gemäß - weitgehend „von oben“ und hatten nicht die Abschaffung, sondern die Verbesserung der Institution Anstalt zum Ziel. Doch gemeinsam ist den Psychiatern der Vereinigung ihre Zielsetzung: „...die Sozial– und Gesundheitspolitik dahingehend zu beeinflussen, daß sie die Errichtung eines Netzes von Diensten zum Schutz der geistigen Gesundheit garantiert. Dieses Netz muß als Ziel sowohl die Überwindung der totalen Institutionen als auch die Veränderung der auf Ausgrenzung, Unterdrückung und sozialer Kontrolle der Kranken basierenden psychiatrischen Versorgung ha ben.Bei der Vorstellung wurde vor allem eines klar: der große Erfahrungsvorsprung der Italiener nach zehn Jahren Kampf gegen die Anstaltspsychiatrie. Die Psychiatriereform in Italien findet ihre gesetzliche Grundlage in dem 1978 erlassenen Paragraphen 180 und ist Teil einer umfassenden Gesundheitsreform. Das Gesetz sieht die Schließung der vorhandenen psychiatrischen Anstalten vor und untersagt die Eröffnung neuer; die Anstalten sollen durch die Schaffung regionaler sozialpsychiatrischer Dienste, durch Wohngemeinschaften oder die Familien ersetzt werden. Für den Fall, daß die ambulanten Möglichkeiten einer Behandlung innerhalb der Gemeinde erschöpft sind (zum Beispiel bei akuten Krisen), sollen im Allgemeinkrankenhaus der Region Betten zur Verfügung gestellt werden, da weder Neueinweisungen in die Anstalt noch Wiederaufnahmen vorgenommen werden dürfen. Zwangseinweisungen im herkömmlichen Sinne gibt es nicht mehr. Sie können nur noch unter aufwendiger, medizinischer, öffentlicher und rechtlicher Bestandsaufnahme erfolgen. Die Zwangsbehandlung, die im Krankenhaus stattfindet, ist auf maximal sieben Tage begrenzt. Wie steht es nun aber mit der Umsetzung dieses Reformgesetzes? Nach wie vor ist es auch in Italien heftig umstritten. Nicht wenige meinen, das Gesetz sei gescheitert. Und tatsächlich muß man feststellen, daß das Gesetz in vielen Regionen - vor allem in denen des Südens - keine befriedigende Anwendung gefunden hat. Die Folge davon: Gesetzesvorschläge zur Gegenreform. Aber vielmehr gehe es, laut Bruno Benigni, Minister für Soziales in der Region Toscana, darum, das Gesetz, das richtig und gut sei, vollständig anzuwenden. Es fehle an Vorschlägen zur Durchsetzung, deshalb sei allenfalls ein „Gesetz zur Anwendung des Paragraphen 180“ notwendig. Hervorragender Vertreter der „Psychiatria Democratica“ und italienischer Präsident der Gesellschaft ist der Turiner Psychiater Agostino Pirella, ein Schüler Basaglias. Er hat als damaliger Leiter der Anstalt von Arezzo deren Öffnung eingeleitet. Es hat sich viel in den letzten 20 Jahren, seit dem allgemeinen Ausbruch der „Krise der Psychiatrie“, getan, so Pi rella. In den USA entstanden die „Community Mental Health Centers“, in Frankreich die „Psychiatrie du Secteur“, in der BRD die sozialpsychiatrischen Dienste. Trotz der inzwischen allseits anerkannten Bedeutung dieser ambulanten Versorgungsformen - man weiß inzwischen, daß Anstaltspsychiatrie in den meisten Fällen eher Schaden als Heilung bringt - liegt der Schwerpunkt der Behandlung psychisch Kranker immer noch weitgehend auf der stationären Einweisung, die Dienste finden im Vergleich zu psychiatrischen Anstalten nur geringe finanzielle Unterstützung. Hierzu zitiert Pirella eine US– amerikanische Statistik, die belegt, daß die zur Verfügung gestellten Gelder auch im Falle sinkender Bettenzahl in der Anstalt verbleiben, indem sich der einzelne Bettenpreis erhöht. So schluckt die Anstalt weiterhin das Gros der Gelder. Deutsche Psychiatrie im Rückstand Auch für Niels Pörksen, Vize– Präsident der Gesellschaft und leitender Arzt der Anstalt Bethel in Bielefeld, ist das größte Handicap für eine fortschrittliche Psychiatriereform ein „negatives Besoldungssystem für ambulante Dienstleistungen“, das die ambulante Behandlung den Gemeinden, die stationäre den Ländern auferlegt: Indem Gemeinden ihre „Fälle“ zu klinischen deklarieren, können sie nicht nur die moralische, sondern auch die finanzielle Verantwortung abwälzen. Hans Otto Böckheler von der West–Berliner „Pinel–Gesellschaft“ nennt hierzu noch den bundesdeutschen „Bettenzwang“, der bei Unterbelegung zu Budgetkürzungen führe - kein Ansporn also zur Anwendung ambulanter Behandlungs formen. Aber nicht nur im Bereich der gesellschaftlichen Wiedereingliederung erwachsener Personen mit psychischen Störungen und Behinderungen ist Italien der BRD weit voraus, sondern das italienische Sozial– und Gesundheitssystem ist vorbildlich auch auf dem Gebiet der Erziehung und psychosozialen Versorgung von behinderten Kindern und Jugendlichen: Seit der Abschaffung der Sonderschulen leben und lernen Kinder mit verschiedensten Behinderungsarten, Lernschwierigkeiten und anderen Verhaltensauffälligkeiten gemeinsam mit den nichtbehinderten Schülern. Eine gesetzliche Regelung gibt es auch hierfür: das „Gesetz 118“, das seit 1971 die Integration in Regeleinrichtungen (Kindergärten und Schulen) vorschreibt. 1977 verabschiedete das italienische Parlament ein zweites Gesetz zur Integration, das sich hauptsächlich auf pädagogische Probleme bezieht: Die Klassenstärke darf 20 nicht überschreiten, in einer Klasse darf nicht mehr als ein behinderter Schüler unterrichtet werden und der Lehrer hat ein Recht auf stundenweise Unterstützung durch einen Stützlehrer. Die deutsch–italienische Gesellschaft will die noch junge Diskussion in der BRD vorantreiben, weil sie vom engen Zusammenhang zwischen Reformpsychiatrie und fortschrittlicher Behindertenarbeit mit Kindern und Jugendlichen ausgeht. Pirella sieht die Aufgabe der Gesellschaft vornehmlich in einer weitergehenden Forschung auf der Grundlage eines intensiven Erfahrungsaustausches, nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch zwischen den Fachleuten des „technischen Wissens“ und den „Trägern des eigenen, armseligen Wissens, des eigenen Leidens und der eigenen ohnmächtigen Wut“. Wunsch und Ziel für die allernächste Zukunft ist die Errichtung eines Dokumentationszentrums nach italienischem Modell auf bundesdeutschem beziehungsweise West–Berliner Boden, in dem Literatur, Filme und andere Unterlagen gesammelt werden sollen. Kontaktadresse: Deutsch–Italieniesche Gesellschaft für Geistige und seelische Gesundheit E.V. Nürnberger Str.17, 1000 Berlin 30 Tel. 030/7847836