■ Filmstarts à la carte: Im Namen von Zivilisation und Vernunft
„Die Gegenwart ist auch nicht berauschend“, sangen einst die Fehlfarben, und wer wollte ihnen widersprechen. In diesem Jahr wird es aufgrund eines Streiks in der Süßwarenindustrie zu einem Versorgungsengpaß bei Schokoladenweihnachtsmännern kommen – da fragt man sich doch erschüttert, welch harte Prüfungen die Menschheit wohl in Zukunft noch zu bestehen hat.
Manche düstere Prophezeiung traf oft schneller ein, als uns allen lieb sein konnte: So hatte H.G. Wells in den dreißiger Jahren in seinem Roman „The Shape of Things to Come“ beispielsweise einen jahrzehntelangen Krieg, tödliche Seuchen, den Rückfall in die Barbarei und deren Überwindung durch eine hochtechnisierte Zivilisation vorausgesagt. 1936 adaptierte der englische Schriftsteller seine Zukunftsvision unter dem Titel Things to Come auch für die Leinwand; als Regisseur konnte der berühmte amerikanische Production Designer William Cameron Menzies gewonnen werden. Es verwundert daher nicht, daß in der britischen Alexander-Korda-Produktion die Dekors eine Hauptrolle spielen.
Es sind vor allem die langen, rasanten Montagesequenzen von Zerstörung und Wiederaufbau der Zivilisation, die den Film zu einem der interessantesten Beispiele für Architektur und Set Design im Kino machen. Die Stadt der Zukunft erscheint im Stil der Art Moderne: kahle, weiße Räume, Säulen aus Plexiglas, kaltes Neonlicht. Für den technologiegläubigen Wells bedeutete die sterile Atmosphäre der schönen neuen Welt den Triumph über Chaos und Barbarei.
Mit der Umsetzung seiner ideellen Grundsätze in Dialoge tat sich der Schriftsteller allerdings schwer: Die pathetischen Reden im Namen von Vernunft und Fortschritt, die er dem armen Hauptdarsteller Raymond Massey in den Mund legte, müssen bereits in ihrer Entstehungszeit einigermaßen grotesk gewirkt haben.
Einen Horrorfilm, der „Frankenstein“ noch übertreffen sollte, hatte MGM-Produktionschef Thalberg von Tod Browning verlangt. Das Produkt, das der im Umgang mit Monstern und Mutationen geübte „Dracula“-Regisseur schließlich vorlegte, erschreckte die Studiobosse jedoch derart, daß sie den Film lieber für Jahrzehnte im Archiv verschwinden ließen. Browning hatte sich an die Zeit erinnert, in der er noch selbst in Vaudeville- und Zirkusshows aufgetreten war, und für sein Melodram eine unvergleichliche Anzahl trauriger Manegenattraktionen versammelt: Liliputaner, Pinheads, siamesische Zwillinge, eine Frau mit Bart und einen Mann ohne Arme und Beine.
Brownings Zeitgenossen erschien diese Ansammlung von Freaks als ein Ausbund schlechten Geschmacks – aus heutiger Sicht kann man die Sensibilität des Regisseurs im Umgang mit seinen außergewöhnlichen Hauptdarstellern nur bewundern. Die Freaks erweisen sich mit all ihren menschlichen Stärken und Schwächen schnell als ganz normale Leute, die wahren Monster sind in Brownings Film hingegen die scheinbar „Normalen“: eine schöne Trapezartistin und der „starke Mann“ der Truppe, die einem kleinwüchsigen Kollegen nach Geld und Leben trachten.
Auf das krause Zeug, das der fette Marlon Brando am Schluß von Apocalypse Now daherredet, hat sich bislang noch kaum jemand einen Reim machen können. Doch in einem Film, in dem Kampfhubschrauber zu Wagner- Klängen angreifen und wo im Bombenhagel gesurft wird, erscheint Brandos durchgeknallter Oberst letztlich nur als konsequenter Höhepunkt. Regisseur Francis Ford Coppola beschrieb seinen merkwürdigen Trip in den vietnamesischen Dschungel denn auch folgendermaßen: „Es ist weniger ein Film als vielmehr eine Erfahrung.“
Lars Penning
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