Filmstart „Lore“: Ameisen wimmeln auf toter Haut
Die Zäsur vom 8. Mai 1945 ist Thema der australischen Regisseurin Cate Shortland. Mit den Augen einer Heranwachsenden findet sie überraschende Perspektiven.
Deutschland im Frühsommer 1945. Der Vater verbrennt Papiere im Garten, die Mutter packt Hausrat in Koffer. Zwei Mädchen toben im Wald. Als verkohlte Papierfetzen vom Himmel fallen, rennen sie ängstlich davon. Am Abend erschießt der Vater den Hund im Garten, am nächsten Tag bricht die Familie auf.
Im neuen Quartier, einer Kate hinter den Hügeln, bleiben sie nicht lang. Der Vater verschwindet, bald macht sich auch die Mutter auf den Weg. „Wenn ich nicht selber gehe“, sagt sie zum Abschied, „holen sie mich.“ Die Nachbarn, rechtschaffene Bauern, jagen die fünf Kinder fort. Lore, die Älteste (Saskia Rosendahl), ist vielleicht 15, Peter, der Jüngste, noch kein Jahr alt.
Die australische Regisseurin Cate Shortland wagt sich mit ihrem Spielfilm „Lore“ auf kaum erschlossenes Gebiet. Der historischen Zäsur des 8. Mai 1945 begegnet sie ohne Begriffe, dafür mit gefräßigen Sinnen. Der eigentümliche Kontrast aus Ruin und sturem Neuanfang der Natur prägt den Film.
Die Kamera von Adam Arkapaw interessiert sich für den schlammigen Acker, für die neuen Blätter im Wald und für die Blüten an den Sträuchern, aber auch für tote, entstellte Körper oder für Gebäude, die in Schutt und Asche liegen. Schuldzuweisungen und moralisches Urteil bleiben aus; stattdessen versucht Shortland, die Wahrnehmung der Protagonistin zum Dreh- und Angelpunkt des Films zu machen.
Festsitzender Antisemitismus
Lore ist die nationalsozialistische Ideologie in jede Körperzelle gefahren, zugleich beherrschen sie andere, neue, nicht einzuordnende Empfindungen. Mehr als nur der Vorschein ihrer Sexualität wird sicht- und fühlbar. Diese Nähe zur Sinneswahrnehmung der Hauptfigur wiederum heißt nicht, dass der Film vom Zuschauer verlangte, sich in diese Figur einzufühlen. Shortlands Inszenierung ist distanziert genug, um das Mitleiden mit der Heranwachsenden zu verhindern; sie bleibt als ein Produkt ihrer Mädelschaft erkennbar.
An die Seite der fünf Kinder gesellt sich Thomas (Kai Malina), auch er ein Heranwachsender. Er trägt einen Ausweis bei sich, demzufolge er jüdisch ist. Lore verachtet ihn und fühlt sich zugleich zu ihm hingezogen. Der Antisemitismus ist mit dem Ende des Krieges nicht von ihr gewichen, er sitzt fest.
Manches in diesem sensualistischen Film wirkt forciert, etwa wenn die blutigen Schenkel einer toten Frau ins Bild gerückt werden und man den Ameisen dabei zusehen kann, wie sie auf der Haut wimmeln. Ja, die Natur ist gleichgültig, man hatte es zuvor schon verstanden. Auch die eine oder andere Zuspitzung in der Handlung ist wie ein Zugeständnis an ein auf Plotpoints fixiertes Arthouse-Kino. Trotzdem überrascht „Lore“ – zumal vor dem Hintergrund der vielen Geschichtsmovies, die immer schon wissen, wie man eine historische Situation auszudeuten hat.
„Lore“. Regie: Cate Shortland. Mit Saskia Rosendahl, Nele Trebs u. a. D/AUS/GB 2012, 102 Min.
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