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Filmkunst und Anästhesie

■ Noch immer gibt es keine neuen Filmförderungsrichtlinien für Berlin

Unzählige Protokolle wurden schon fotokopiert, versendet, abgeheftet, weggeschmissen. Lange Stunden mühsam-quälend bürokratischer Sitzungen verstrichen in den letzten anderthalb Jahren im Keller des Rathauses Schöneberg und in anderen sachlich eingerichteten Räumen. Auf dem beschwerlichen Weg zur Verabschiedung neuer Filmförderungsrichtlinien für Berlin verging vielen Filmschaffenden die Lust/Zeit/Geduld, basisdemokratisch Paragraphen zu formulieren und sich stundenlang über Quotierungen, Eigenanteile und Produktionsbedingungen zu streiten. So verebbte allmählich die plebiszitäre Aufbruchstimmung unter den Filmschaffenden der Stadt, die dank der Koalitionsvereinbarungen Änderungen der Filmförderungsrichtlinien nach dem Regierungswechsel im Februar 89 die passive Unzufriedenheit vor allem der noch nicht so berühmten Regisseure beendet hatte. Quasi natürlich erlebte die Basisinitiative dann bis zum Sommer 89 die Metamorphose zum Delegiertenmodell, weil in den Büros der zuständigen Senatsverwaltungen für Kultur und für Wirtschaft die Sitzkapazitäten beschränkt sind und zu schreibende Texte sich in Gruppen mit weniger als hundert Anwesenden irgendwie einfacher formulieren lassen.

Kultursenatorin Martiny reagierte auf die unterschiedlichen Vorschläge diverser Verbände und Gruppen zur dringenden Reform der Berliner Filmförderung mit einem Hearing, zu dem vor genau einem Jahr alle Verbände, Vereine, kompetenten und sich für kompetent haltenden Personen eingeladen wurden. Nach dieser Veranstaltung war klar, daß separate Vorschläge für den bislang zu kurz gekommen No- und Low-budget-Bereich als »unrealistisch« verworfen werden mußten. Die vorgesehene Trennung von »kultureller« und »wirtschaftlicher« Filmförderung wurde verworfen. Ein ganz neues, großes, einheitliches Modell sollte entwickelt werden, in dem die Förderung von Kleinstvorhaben (ohne kommerzielle Aussichten) und Millionenprojekten (mit kommerziellen Absichten) »unter einem Dach« angesiedelt würde. Um diese komplizierte Aufgabe zu lösen, gründete sich der »Filmrat«, ein 21köpfiges Gremium. Obwohl in dieser Instanz Super-8- Filmer, Kinobetreiber, Verleiher, Drehbuchautoren und Fernsehproduzenten — also höchst unterschiedliche Interessengruppen — miteinander verhandelten, entstand im März dieses Jahres, was zwischenzeitlich niemand mehr für möglich gehalten hätte: ein neuer Richtlinienentwurf — ein Medley aus neuen Ideen, Notwendigkeiten, Kompromissen, Erfahrungen der westdeutschen Filmbüros und Berlin-Spezifika. Alles in allem ein Konzept, das die Berliner Filmlandschaft prima und zur Zufriedenheit fast aller hätte fördern und weiterentwickeln können. Auch Martiny, so gab sie in einer offiziellen Mitteilung bekannt, sei »froh und stolz« über die Existenz und die konstruktive Arbeit des Berliner Filmrats. Dennoch, vor der langersehnten Verabschiedung neuer Richtlinien bestand sie auf der Änderung eines einzigen Punktes, dem der Gremienbesetzung. Die allerdings ließe das Fundament des neuen Richtlinienentwurfs in sich zusammenbrechen.

Ursprünglich war von »Selbstverwaltung« der Filmförderung die Rede. Nach dem Richtlinienvorschlag des Filmrats entscheiden unabhängige, fachkompetente Dreiergremien in Anwesenheit des (nicht stimmberechtigten) Filmbeauftragten des Senats über Zustimmung und Ablehnung der eingereichten Projekte. Wie realistisch zum Beispiel die dazugehörigen Kalkulationen einzuschätzen sind, würden vom Senat beauftragte Fachleute vor den Gremiensitzungen bewerten. Martiny dagegen möchte den drei stimmberechtigten Gremienmitgliedern »bis zu vier nicht stimmberechtigte Vertreter der Senatsverwaltungen (Kultur, Wirtschaft) sowie der Filmkredit-Treuhand« während der Vergabesitzungen beratend zur Seite stellen. Die Befürchtung, daß in einer solchen Konstellation etwa Banker oder andere Wirtschaftsfachleute mit einigen smart präsentierten Zahlen sehr effektiv kulturpolitische Entscheidungsprozesse beeinflussen könnten, versuchte Martiny mit einer fast kafkaesken Begründung auszuräumen: Dieser Befürchtung »können wir entgegenwirken durch eine Bestimmung in den Richtlinien, nach der — was wir ja ohnehin wollten — die Sitzung von einem der stimmberechtigten Mitglieder geleitet wird und zur Aufgabe der Sitzungsleitung gehört, die Redebeiträge der Nichtstimmberechtigten auf deren jeweiliges Fachgebiet zu beschränken«.

Mit dem Dissens über die Gremienzusammensetzung begann eine unendlich lange Sommerpause. Und so sind bis heute anderthalb Jahre wahrhaft aktiver Filmpolitik vergangen, ohne daß sich für die Berliner Filmförderung daraus irgendeine Perspektive abzeichnet. Im Gegenteil, wahrscheinlich gibt es im Oktober wieder genug Gründe von seiten der Kultursenatorin, das vom Filmrat vorgeschlagene Modell als überholt und veraltet abzutun. Fraglich ist, ob dann für den notwendigen dritten Anlauf überhaupt noch irgend jemand von den enervierten, verärgerten Betroffenen noch irgendwelche Vorschläge zu machen haben wird.

Um bei dieser Politik des langen Atems nicht ganz und gar in die Rolle anästhesierter Patienten abzurutschen, ruft das Plenum der Berliner Filmschaffenden zu folgender Gegenmaßnahme auf: Damit der Senat eine Ahnung davon bekommt, wie viele Projekte in Berlin tatsächlich von der Verabschiedung neuer Richtlinien abhängen, sollten alle Filmschaffenden, die gerade entsprechende Vorschläge, Treatments oder Drehbücher fertig haben, diese jetzt und sofort zum Senat schicken; selbstverständlich versehen mit der Aufforderung, die neuen Richtlinien entsprechend des Filmrat-Modells umgehend zu verabschieden. Außerdem soll mit dieser Aktion vermieden werden, den im vergangenen Jahr bewilligten Zuschuß von 1,5 Millionen Mark für No- und Low-budget-Projekte verfallen bzw. in andere Kanäle abfließen zu lassen. (Weitere Informationen gegen frankierten DIN- A5-Rückumschlag bei: Wulf Brandes, Helmstraße 3, Berlin 62, Tel.: 7844480.) Über den Stand der Dinge soll beim nächsten Plenum der Berliner Filmschaffenden während des VIPFILM-Festivals weiterdiskutiert werden (Sonntag, 30.9. um 14 Uhr im Eiszeit-Kino). hee

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