piwik no script img

Filmfestspiele in CannesIntimität und Totalität

■ Cannes, achter Tag: das erste Meisterwerk, ein Melodram und Filmepos aus China

Treue und Verrat – daraus werden Melodramen gestrickt. Gibt's das noch? Chen Kaige erzählt in „Farewell to my Concubine“ die Geschichte zweier Sänger der Peking-Oper und einer Frau, die zwischen ihnen steht, von den zwanziger Jahren bis 1977, als die Kulturrevolution mit der Verhaftung der „Viererbande“ zu Ende ging. Also doch kein Melodram, sondern ein Filmepos? Beides: Kaige hat das Prinzip begriffen, das im Modell der Gattung, „Vom Winde verweht“ formuliert wurde – die ganz große „Geschichte“ läßt sich im Kino nur erzählen, wenn sie sich im Gesicht des Einzelnen spiegelt, so wie sich dessen Individualität, seine „Treue“ zu sich und anderen oder sein „Verrat“, am schärfsten vor dem Hintergrund der Geschichte abzeichnen. Aber es reicht natürlich nicht, dieses Prinzip zu begreifen. Welcher Regisseur schafft es schon, Melodram und Epos, Intimität und Totalität, aneinander zu messen, ohne sie zu versöhnen, denn das wäre ideologischer Kitsch? Kaige schafft es. „Farewell to my Concubine“, produziert in Hongkong mit taiwanesischen Geldern und gedreht in Peking, ist ein grandioser Film und dürfte dem chinesischen Kino der „Fünften Generation“ endgültig, auch kommerziell, zum Durchbruch verhelfen. Gong Li, und Leslie Cheung, der hier die Konkubine spielt, dürften zu internationalen Stars werden.

Cheung verdiente als Darsteller der „Konkubine“ in der gleichnamigen Oper gewissermaßen die Goldene Palme für die beste weibliche Hauptrolle: In der Peking-Oper wurden auch die Frauen von Männern gespielt. „Farewell...“ zeigt am Anfang wie Dieyi (so sein Künstlername im Film) als Junge mit einem an Vernichtung grenzenden Drill auf die Rolle zugerichtet wird und wie er sich fortan weigern wird, diese Rolle jemals wieder abzulegen. Den Darsteller des Königs in der Peking-Oper, seinen Bühnenpartner, wird er auch im Leben lieben. Dieser aber (Zhang Fengyi) kann Dieyi nur als „Bruder“ lieben, nicht als „Frau“ und heiratet die ehemalige Prostituierte Juxian (Gong Li) – eine der atemberaubendsten Dreiecksgeschichten, die im Kino der letzten Jahre zu sehen waren, die Verstrickung aus Homo- und Heterosexualität, Mannsein und Frausein, Kunst, Leben und Geschichte ist unentwirrbar. Gesprengt wird das Dreieck in der Kulturrevolution, als die „dekadente“ Peking-Oper verfolgt wird und als sich auch in China erwies, was Kommunismus war: Ein System, das auf Verrat beruhte, an sich und den anderen.

„Wir sind alle für die Kulturrevolution verantwortlich“, sagt Chen Kaige in der Pressekonferenz. Daß man unter Druck stand, ändert nichts an der Verantwortung. Ich selbst verriet in der Kulturrevolution meinen Vater, um meine Loyalität unter Beweis zu stellen.“

„Farewell...“ zeigt in der Figur eines schwulen Sängers den Triumph des Individuums über die Geschichte und den Preis, den es dafür bezahlt. Der Film ist viel zu reich, als daß man ihm in den neunzig Zeilen dieser Kolumne gerecht werden könnte. Thierry Chervel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen