: Fett ist das Gegenteil
Knusprig produzierter weißer Reggae – eigentlich geht das gar nicht. Geht doch! Aber nur bei Walter Beckers Album „Circus Money“. Für Überraschungen ist die eine Hälfte der Band Steely Dan stets gut
VON DETLEF DIEDERICHSEN
Sie bleiben auf Kurs. Von all den großen Duos der Popgeschichte wie Richard Rodgers/Lorenz Hart, John Lennon/Paul McCartney, Antonio Carlos Jobim/Vinícius de Moraes bleiben Donald Fagen und Walter Becker die auf lange Sicht gesehen Überraschungsreichsten.
Als Steely Dan waren die beiden New Yorker Vorstadtnerds prägende Kreativkräfte der Siebzigerjahre und sind seit der Wiederbelebung des Bandnamens, Mitte der Neunzigerjahre, einer der erfolgreichsten Liveacts in den USA. So weit, so Mainstream, doch bei näherem Hinsehen ist nichts, wie es sein müsste. Steely Dan – ihr Name ist dem Schriftsteller William S. Burroughs entlehnt – hatten ja das Trojanische-Pferd-Prinzip in die Popmusik eingeführt: Unter einer elegant groovenden und mitunter geradezu romantisch-sentimentalen Oberfläche transportierten sie Bebop- und E-Musik-Harmonik und eine urban-abgebrühte, mitunter finstere Weltsicht ins Universum des Zuhörers.
Der konnte sich darauf einlassen oder auch nicht – die Millionen von Plattenkäufern, die Steely Dan nicht nur in den Siebzigern immer wieder in die Top Ten brachten, sondern in den folgenden Jahren auch zu Reissuedauerbrennern machten, wurden sicherlich nicht alle zu düsteren Misanthropen. 1994 erschien mit „11 Tracks of Whack“ das Soloalbumdebüt von Walter Becker, und anders als die bis zu dem Zeitpunkt veröffentlichten zwei Platten von Donald Fagen klang es zunächst wenig nach Steely Dan. Die obere Schicht fehlte, der einladende, verführerische Glanz. Stattdessen schien es das größte Anliegen dieses sperrigen Werks zu sein, unbedarfte Neugierige wegzubeißen – ähnlich wie etwa Neil Youngs legendäres „Landing on Water“ einige Jahre zuvor.
Wenn das ideale kommerzielle Popalbum auf allen Ebenen die Botschaft „Begehre mich!“ sendet, knurrte „11 Tracks of Whack“: „Geh weg!“ oder bestenfalls „Falsch verbunden“ mit seiner kargen Mischung aus spröden Computerdrums, Beckers eher Gemurmel als Gesang zu nennendem Vokaldebüt, kurz hereinschießenden Freejazzausbrüchen und anspielungsreichen und raffiniert formulierten, aber unendlich realistisch-deprimierenden Texten über gescheiterte Lebenspläne, disfunktionale Beziehungen und finstere Strippenzieher.
Dabei war die Mehrzahl der sparsam, rau und fröstelnd maschinell arrangierten Songs so strukturiert, dass auf missgelaunt-nölige Strophen hymnisch-übersüßliche Refrains folgten. Ein einzigartiges Statement gegen die Vereinnahmung durch Fans und Musikindustrie und das Prinzip Popsong. 14 Jahre, zwei erfolgreiche Steely-Dan-Alben und etliche Steely-Dan-Tourneen später beginnt Beckers zweites Soloalbum „Circus Money“ ganz im Stil des ersten.
Doch der spröde Auftaktsong „Door Number Two“ führt in die Irre: Ab dem zweiten Song „Downtown Canon“ wird klar, dass Becker mal wieder die Erwartungen unterläuft und auf dem Album seine Liebe zum Reggae auslebt. Oha. Crispy produzierter weißer Reggae ist nun eigentlich eine Musik, die auf der Verbotsliste ganz oben steht. Das große Wunder und die große Leistung des Albums ist, dass man sagen kann: Egal. Zwar muss sich der exzellente Schlagzeuger Keith Carlock tapfer an den Figuren aus dem Lehrbuch für Reggaeschlagzeug abarbeiten und den Gitarristen und Keyboardern wurden Offbeats verordnet, aber schon Becker selbst hält sich am Bass – dem zentralen Reggaeinstrument – kaum an Genregepflogenheiten und tupft die Noten meist nur symbolisch an. Fett ist das Gegenteil.
Zur Arbeitsweise von Steely Dan gehörte immer eine gewisse Dialektik, die liebliche Melodie zum bösen Text zu komponieren oder auch scheinbar unvereinbare Genres aufeinanderzuhetzen. Auch wenn die Technik hier eine andere ist, ist das Ergebnis nicht so weit entfernt: Purismus ist Beckers Sache immer noch nicht, die mit Reggaesignatur beginnenden Songs gewinnen schon bald ein Eigenleben, und in „Paging Audrey“ und „Somebody’s Saturday Night“ kann man quasi miterleben, wie die Reggaevorgaben zu experimentellem Funk mutieren. Ganz davon abgesehen, dass der nüchterne, antikapitalistische Realismus der Becker-Welt denkbar weit entfernt ist von den spirituellen, ganjaweichen tropischen Tröstungen Jamaikas. Wie Donald Fagens letztes Soloalbum „Morph the Cat“ (2006) komplett Becker-frei war, verzichtete auch Becker für „Circus Money“ auf die Unterstützung Fagens. Was die beiden nicht daran hindert, derzeit gemeinsam durch die USA zu touren und auf beiden Soloalben größtenteils die aktuelle Tourband einzusetzen.
„Circus Money“ ist aber auch Frucht einer neuen Zweierbeziehung. Produzent des Albums und Koautor fast aller Stücke ist Larry Klein, der bislang vor allem durch künstlerisch zweifelhafte Produktionen für seine Exfrau Joni Mitchell auffiel, aber auch die genremäßig entfernt verwandten Holly Cole, Madeleine Peyroux oder Tracy Chapman betreuen durfte. Sein Beitrag hier ist schwer einzuschätzen, da diese Musik und diese Texte so gar nichts mit den zarten Jazz-Folk-Stylings genannter Damen gemein haben, dafür aber sehr leicht als Erweiterung der bisherigen Musik Beckers gedeutet werden können. Wie Klein sich seine Credits verdienen konnte, bleibt also offen. Nachdem sich Donald Fagen bei seinem letzten Solowerk „Morph the Cat“ weitgehend auf die bekannte Formel verlassen hatte, überrascht es jedenfalls nicht, dass die beiden derzeit lieber getrennt Platten machen. Auf die einladende Oberfläche mag Fagen nicht verzichten. Wie erste Kritiken zeigen, schafft es Becker mit der White-Reggae-Verpackung hingegen auch diesmal, seine Songs vor falschen Freunden zu bewahren.
Walter Becker: „Circus Money“ (Sonic 360/Rough Trade)