: Fehlstart nach Paris mit Herrn Marx
■ Seltsamer Beginn einer Bustour nach Paris: Gute Busse für die Wessis, der schlechte für die Ossis
West-Berlin. Am Busbahnhof am Funkturm stehen am Donnerstag abend drei Busse der „Holiday Reisen“ bereit, um West- und Ostberliner Fahrgäste für vier Tage nach Paris zu karren. Zwei davon sind ordentliche Fernreisebusse, der dritte ist im Vergleich zu den anderen eine alte Schrottlaube. Der Fahrer jener Rostbeule bedauert seine Passagiere, aber die Firma könne wegen totaler Ausbuchung nicht jeder Gruppe Standard-Busse anbieten.
Einige mißtrauische Fahrgäste fragen herum und bekommen heraus, daß alle, die mit „diesem schäbigen Ding“ nach Paris gebracht werden sollen, aus der DDR stammen. „Na, nee, Mann, mit sowat sind wa vierzich Jahre jefahren“, empört sich einer von ihnen. „Nee, wir ham vollen Preis für 'Holiday Reisen‘ bezahlt.“ „Ja“, sagen andere, „nur weil wir DDRler sind, denken sie, sie können mit uns machen, was sie wollen.“
Ein zuständiger Vertreter von „Holiday Reisen“ wird gesucht. Dann kommt ein Herr Marx und erklärt im Namen des Reiseveranstalters, daß leider kein anderer Bus zur Verfügung stehe. Aber warum denn ausgerechnet nur „Ostler“ in diesen Bus „eingepfercht“ würden? „Nein, das stimmt so nicht! Das ist rein zufällig...“ - „Zufällig? Sie schreiben bei der Buchung die Adressen der Passagiere auf, und die Ostler bekommen eine Sonderbehandlung, eine Billigabfertigung für dasselbe Geld!“ wird dazwischengerufen.
Die Gemüter erhitzen sich. „Fassen Sie mich nicht an!“ muß Herr Marx öfters rufen. „Ist hier einer, der nicht Ostler ist?“ fragt jemand in die Runde. „Ja, aber die Reise hat meine Freundin gebucht, und sie lebt im Osten“, meldet sich verärgert eine Frau. „Ich bin nicht bereit, unter diesen Bedingungen zu fahren, und fordere mein Geld zurück!“ Andere unterstützen sie: „Ja, wir wollen unser Geld zurück, oder Sie schicken uns einen anderen Bus!“ Das Gesicht von Herrn Marx färbt sich rot. Aber nicht vor Scham, ach wo, vor Wut! „Wer nicht mitfährt, bleibt hier. Und Geld zahlen wir auch nicht zurück! SCHLUSS!“ Die anderen Busse fahren auch schon los. Der alte „Magirus Deutz TR 120“ wird weiterhin boykottiert. Zehn Minuten nach dem Abfahrtstermin erscheint Herr Marx noch einmal und kündigt an: Der Bus fährt los. Egal, wer mitfährt. Einige steigen ein: „Na ja, ich habe doch extra freigenommen...“ Es bleiben nur noch fünf Leute, die es schriftlich haben wollen, daß sie sich über die Reisebedingungen beschwert haben und daher nicht bereit sind, die Reise anzutreten. „Ich kann das nicht unterschreiben“, sagt aber Herr Marx. „Ich bin dafür nicht zuständig.“
Herr Marx ist nicht verantwortlich, er ist nicht zuständig, er vertritt „Holiday Reisen“ nicht, er spricht nur für sie. Und rennt schließlich zum zweiten Mal weg. Zurück bleiben die „von eurer kapitalistischen Marktwirtschaft“ gedemütigten DDR-Bürger.
Laszlo Virag
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen