■ Fehlkalkulationen gefährden die Pflegeversicherung: Gegenseitig ausgetrickst
In Bonn, das weiß inzwischen jedes Kind, geht schon lange so gut wie nichts mehr. Und weil die Verantwortlichen dort nichts mehr entscheiden können, begeben sie sich auf die Suche nach Sündenböcken für ihr eigenes Versagen. Jüngstes Beispiel: die Pflegeversicherung. Da wird eines der größten Regierungsvorhaben seit Monaten von der Koalition hin- und hergeschoben, um am Ende die einfachste aller Rechnungen zu präsentieren: Wer krank ist, bezahlt. Mit zwei Karenztagen sollen die Arbeitnehmer dafür bestraft werden, daß sie wegen Krankheit nicht arbeiten können, damit der Wirtschaft die zusätzlichen Kosten zurückerstattet werden können. Zynischer geht es kaum noch: Ein kleiner Teil der abhängig Beschäftigten, dazu noch die Schwachen, tragen den Großteil der Kosten; große Unternehmen mit einem hohen Krankenstand profitieren zusätzlich von dieser Regelung.
Würden politische Entscheidungen stets nach den Anweisungen ökonomischer Lehrbücher getroffen, sähe es für die sozialen Standards wohl schlecht aus. Mit dem längsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Gewerkschaften in den 50er Jahren die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt. Soll dieser Bestandteil des sozialen Friedens und der Tarifautonomie nun geopfert werden, nur weil Blüm & Co. die Kosten nicht wie versprochen kompensieren können? Wer zu solchen unsozialen wie ungerechten Lösungsvorschlägen greift, der muß den Widerstand der Gewerkschaften einkalkulieren.
Doch so weit wird es nicht einmal kommen. Das Peinlichste an dem von den Koalitionsspitzen aufgeführten Schauspiel Pflegeversicherung ist, daß sie sich bei ihrem finanziellen Entlastungspoker in taktischen Manövern verfangen haben. Der Arbeitsminister kalkuliert damit, die SPD erpressen zu können, im Bundesrat statt der Karenztage doch noch auf zwei Feiertage zu verzichten. Der Chefliberale Graf Lambsdorff würde auf Drängen der Arbeitgeberlobby dem längst überfälligen Reformprojekt am liebsten den Totenschein ausstellen und riskiert nebenbei den Koalitionskrach. Und weil sich die SPD politisch nicht durchsetzen kann, soll die Entscheidung, ganz sozialdemokratisch, wieder mal nach Karlsruhe verlegt werden. Dort wird das Gesetzesvorhaben letztendlich dann wohl auch landen. Namhafte Arbeitsrechtler sind sich schon jetzt sicher, daß die Einführung von Karenztagen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht standhalten werde. Die Blüm-Idee der Feiertagsregelung hingegen hätte vor den Karlsruher Richtern eher Bestand – doch die scheitert schon in der Länderkammer am Widerstand der SPD. Wie der Solidarpakt droht die Pflegeversicherung im Geplänkel unterzugehen. Kein Wunder, denn um die Sache geht es schon lange nicht mehr. Erwin Single
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen