■ Fata Morgana oder Licht am Ende des Tunnels?: Aristide kehrt zurück
Allen Unkenrufen aus rechten und linken Ecken zum Trotz war die amerikanische Intervention auf Haiti bisher ein Erfolg. Mit wirtschaftlichem und politischem Druck allein hätte Bill Clinton dieses Ziel nicht erreicht: Haitis Putschistenregime war weder durch Drohungen noch durch gute Worte zum Nachgeben zu bewegen. Erst die massive Militärpräsenz der USA vor der Küste, im Luftraum über Haiti und auf den Straßen von Port-au-Prince brachte die erhoffte Wende.
Daß die Invasion – denn um eine solche handelt es sich, aller Wortakrobatik zum Trotz – so unblutig verlief, ist dem von Jimmy Carter in letzter Minute ausgehandelten Vertrag zu verdanken, der die Besatzungsmacht zur Kooperation mit der haitianischen Armee verdammte und damit mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete: Gegner und Anhänger des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide bezeichneten das Abkommen deshalb als faulen Kompromiß – zu Unrecht, wie sich inzwischen gezeigt hat.
Die Bilanz nach dreieinhalb Wochen amerikanischer Okkupation übertrifft selbst die optimistischsten Erwartungen: abgesehen von einem durch US-Marines provozierten Zwischenfall in Cap- Haitien, der zehn Menschenleben forderte, gehen die meisten Todesopfer seit Beginn der Invasion auf das Konto der haitianischen Armee und Polizei. Deren Entwaffnung macht mittlerweile rasche Fortschritte; nach anfänglichem Zögern der USA wurden die Attachés genannten paramilitärischen Verbände weitgehend zerschlagen, die Chefs der Todesschwadronen verhaftet oder ins politische Abseits gestellt.
Fast ohne einen Schuß abzufeuern haben die US-Streitkräfte Haiti befriedet und von einer mörderischen Diktatur befreit sowie die seit Jahren unterbrochene Wasser- und Elektrizitätsversorgung in kürzester Frist wiederhergestellt. Kein Wunder, daß die Bewohner der Elendsviertel die amerikanischen GIs mit Freudentänzen empfingen; Plünderungen und gewalttätige Ausschreitungen, Racheakte und Lynchjustiz gehören nicht länger zur Tagesordnung der Ärmsten der Armen, und die meisten Haitianer leben heute sicherer und freier als unter den diktatorischen Regimes der letzten 36 Jahre, abgesehen von der kurzen Amtszeit des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide.
Dessen Rückkehr nach Haiti steht nichts mehr im Wege. Nur wer Aristides Amtseinführung im Februar 1991 erlebt hat, kann ermessen, welch unbeschreiblicher Jubel den ins Exil Getriebenen in den Straßen von Port-au-Prince umbranden wird: durch ihren blutigen Coup haben die Militärs Père Titid, wie er von seinen Anhängern liebevoll genannt wird, zum Märtyrer und Messias gemacht – hätte er länger regiert, er wäre heute vermutlich weit weniger populär. Zwar hat er den Grundübeln der Dritten Welt, Korruption, Brutalität und Ineffizienz, schon vor Jahren den Kampf angesagt, aber sein Appell zur Versöhnung der haitianischen Gesellschaft, die in zwei tödlich verfeindete Lager zerfällt, klingt ebenso vage wie sein Konzept zur Sanierung der durch das Embargo total zerrütteten Wirtschaft.
Gerne antwortet Aristide auf konkrete Fragen, etwa, wodurch sich sein neues Regierungsprogramm vom vorhergegangenen unterscheide, und welche Lehren er aus dem Militärputsch vom September 1991 gezogen habe, mit Bibelzitaten oder Parabeln und verweist auf die allumfassende Liebe Gottes oder den Märtyrertod Jesu Christi, der für alle Menschen gestorben sei – sibyllinische Aussagen, die selbst für seine Mitarbeiter kaum zu entschlüsseln sind.
Zwar ist seine Popularität nach wie vor ungebrochen, aber Aristide hat es nicht verstanden, seine Zweidrittelmehrheit zu einer soliden Machtbasis auszubauen und seine Anhänger politisch zu organisieren: Aristides „Lavalas“-Bewegung (kreolisch für Lawine oder Sturzflut) wurde durch die Repression geschwächt und durch den Terror der Todesschwadronen empfindlich dezimiert. Die haitianische Linke wiederum, die ihn als Galionsfigur instrumentalisiert, ist heillos untereinander zerstritten und in Gruppenegoismen befangen. In Haiti will jede(r) Präsident werden – darunter macht er (oder sie) es nicht.
Zudem bleiben Aristide nur noch anderthalb Jahre, um das ehrgeizige Reformprogramm, mit dem er 1991 angetreten war, wenigstens ansatzweise in die Tat umzusetzen. Ende 1995 finden Neuwahlen statt, und auf Wunsch von Bill Clinton soll Aristide auf eine erneute Kandidatur verzichtet haben, weshalb in Haiti Gerüchte kursieren, als Preis für seine Rückkehr zur Macht hätten die Amerikaner ihm die Zähne gezogen und die Krallen gestutzt.
Jean-Bertrand Aristides Wiedereinzug in den Präsidentenpalast wird von drei Fragen überschattet, die zugleich die Knackpunkte seiner künftigen Regierungsarbeit bezeichnen:
1. Die Frage seiner persönlichen Sicherheit, die, wie die Dinge liegen, nur von den Amerikanern garantiert werden kann. Wenn die US-Streitkräfte, wie geplant, in drei bis sechs Monaten von UNO- Schutztruppen abgelöst werden, ist die nächste Krise schon vorprogrammiert. Die haitianische Bevölkerung hat vor Blauhelmsoldaten aus Bangladesch, Jamaika oder Barbados sehr viel weniger Respekt als vor den Profis der US- Army, und eine Destabilisierung der inneren Sicherheit könnte die Folge sein – vielleicht sogar die Rückkehr der in den Untergrund abgetauchten Attachés.
2. Die Frage, ob es Aristide gelingt, seinen Aufruf – nicht Rache, sondern Gerechtigkeit – in die Tat umzusetzen. Wenn die bezahlten Mörder, Folterer und Vergewaltiger des Regimes demnächst wieder frei herumlaufen, weil sie aus der Haft geflohen oder entlassen worden sind, ist die angestrebte nationale Versöhnung in Gefahr. Die frustrierte Bevölkerung könnte zur Selbsthilfe greifen, und Lynchmorde wie nach dem Sturz von Baby Doc wären die Folge. Um das zu verhindern, ist nicht nur die Professionalisierung der Polizei, sondern auch eine Reform des Justizapparates vonnöten, die in so kurzer Zeit kaum zu bewerkstelligen sein wird.
3. Die desolate Wirtschaftslage: Zwar dürfte nach der Aufhebung des Embargos, das vor allem die arme Bevölkerung trifft, und nach dem Wiederanlaufen internationaler Hilfsprogramme eine spürbare Besserung zu registrieren sein. Aber Massenarbeitslosigkeit und Inflation, und damit ein weiteres Anwachsen der sozialen Unzufriedenheit, drohen weiter, zumal die auf Haiti tonangebenden Geschäftsleute libanesischer Herkunft Aristide alles andere als wohlgesonnen sind: Sie haben den letzten Militärputsch finanziert.
Aber allen Unwägbarkeiten zum Trotz gibt es wieder Hoffnung für Haiti: ein Licht am Ende des Tunnels – ob es sich dabei um eine Fata Morgana handelt, wird die Zukunft erweisen. Hans-Christoph Buch
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