: Farbakzente im Bauchnabel
■ Bilder mit drastisch verkürzten Perspektiven von Zweifel, Sex und Tod: Die Kunsthalle zeigt 150 Arbeiten des österreichischen Malers Egon Schiele
Die Linie sucht eine gebrochene Form, der Rest des meisterhaft ausgewichteten Papiers bleibt leerer Bildraum und wenige Farbakzente betonen Lippen, Bauchnabel und Geschlechtsteil. Die reduzierten und mitunter drastisch in den Perspektiven verkürzten Aktzeichnungen von Egon Schiele sind in ihrer Einzigartigkeit unverkennbar. Der österreichische Maler hat zwischen 1907 und 1918 den opulenten Jugendstil des Malerfürsten Gustav Klimt in einen sensiblen, geradezu nervösen Expressionismus überführt. Die haltlose Verlorenheit mancher Darstellungen wird noch betont, indem Schiele liegende Figuren im Querformat zeichnet und später mit der Signatur zum Hochformat umdeutet.
Mit seinen selbstquälerischen und exzessiven Analysen stand der Maler nicht allein. Im damals brodelnden Wien, Zentrum der sterbenden, riesigen K.u.K.-Monarchie Österreich-Ungarn, arbeiteten zugleich der Sprachsezierer Karl Kraus, Architekturkritiker Adolf Loos, Musikrevolutionär und Maler Arnold Schönberg und ein gewisser Doktor Freud.
Werner Hofmann hat vor 15 Jahren in der Kunsthallen-Ausstellung Experiment Weltuntergang dieses Umfeld dargestellt. Jetzt sind über 150 Arbeiten Schieles, von großen Ölbildern zu kleinen Bleistiftskizzen, von frühen Landschaftsbildern zu den Skizzen seiner sterbenden Frau in die Hamburger Kunsthalle gekommen. Nach Tübingen und Düsseldorf werden in einer Ausstellungstournee nahezu alle die Werke Schieles gezeigt, die der Wiener Privatsammler Rudolf Leopold zusammengetragen hat. Nach der Station in Hamburg werden sie den Schwerpunkt eines neu für die leopoldsche Sammlung österreichischer Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts eingerichteten Museums in Wien bilden.
Bereits im Alter von 16 kann sich Schiele, der Sohn eines Oberoffizials der K.u.k.Staatsbahn aus dem niederösterreichischen Tulln, 1906, an der hochberühmten Wiener Akademie der Künste einschreiben. Seit 1908 beteiligt er sich an Kunstausstellungen, doch nicht die traditionelle Akademie, sondern Gustav Klimt beeinflußt ihn hauptsächlich. Er gründet mit Gleichgesinnten die „Neukunstgruppe“ und arbeitet in billigen Häusern in den Kleinstädten Krumau und Neulengbach. Dabei stossen seine Lebensform (wilde Ehe) und sein Interesse für junge Mädchen, die ihm als Aktmodelle dienen, an die Toleranzgrenze der kleinbürgerlichen Gesellschaft.
Nicht nur Kaiser Franz Joseph zeigte sich von einem großen Aktbild Schieles äußerst unangenehm berührt, im April 1912 wird der Künstler unter dem Vorwurf verhaftet, eine Minderjährige verführt zu haben, und nachdem sich das als haltlos herausstellt, wegen „Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“ bestraft. Wegen dieses Schocks zieht er nach Wien. Wirklich erfolgreich setzt sich seine Kunst aber erst 1918 durch, nachdem er von ornamentalen und karikierenden Auffassungen zu einem farblich und formal entspannteren Stil gefunden hat. Doch das Jahr 1918 sollte auch sein Todesjahr werden.
Hajo Schiff
Kunsthalle, 22. März bis 16. Juni
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen