: Falsche Kritik an Grass
betr.: „Kommunikatives Beschweigen“
Dass G. Grass als 17-Jähriger, freiwillig oder unfreiwillig, in der SS war, kann ihn heute nicht diskreditieren. Wer hat heute schon noch eine Vorstellung davon, was es hieß, im Dritten Reich aufzuwachsen? Selbst wer es noch weiß, steckte nicht in Grass’ Haut. Dass Grass so lange geschwiegen hat, kann ihm ernsthaft nur als Feigheit ausgelegt werden. Aber reicht das aus, um ihn anzugreifen?
Wirklich fatal ist, dass Grass den Blick auf seine Vergangenheit keinerlei kritischer Reflexion unterzieht. So spricht Grass im Interview mit der FAZ über seinen Onkel bei der polnischen Post, der plötzlich verschwunden war und von dem es dann hieß, er sei standrechtlich erschossen worden. Dann war da noch die kaschubische Verwandtschaft seiner Mutter, die plötzlich nicht mehr gern im Haus gesehen wurde. Im weiteren Verlauf des Interviews gibt er dann aber zum Besten, dass er in der Kriegsgefangenschaft erstmals mit Rassismus konfrontiert wurde, bei amerikanischen Soldaten. Ein anderes Beispiel: Er sagt, er habe nicht gewusst, was die SS eigentlich war. Eine Eliteeinheit, von ihrem Ruf wusste er nichts. Deswegen ist er auch nicht auf die Idee gekommen, seine Uniform auszuziehen, als seine Einheit „aufgerieben war“. Aber ein Obergefreiter hat es gewusst, er hat ihm den Tipp gegeben, seine Kleidung zu wechseln. Woher hat er das gewusst? Hat er davon gehört? Warum hat er dann trotzdem noch „mitgemacht“? Oder war er sogar selbst an Kriegsverbrechen beteiligt? Diese Fragen stellt Grass nicht. Für ihn ist der Obergefreite ein „wunderbarer Typ“, „auf den man sich verlassen konnte, der alle Tricks kannte, dem Kameradschaft wichtig war“. Im Interview sagt Grass auch: „Aber du hast keine Fragen gestellt, nicht die entscheidenden Fragen.“ Tut er das heute?
SUSANN KUNZE, Delitzsch