Fall de Menezes vor Gericht: Erschießung bleibt ungesühnt
Ein Brasilianer wurde vor drei Jahren in London erschossen, weil er mit einem Terrorverdächtigen verwechselt wurde. Die Geschworenen hielten die Darstellung der Polizisten für unglaubwürdig.
DUBLIN taz Wenn ein Unschuldiger durch sieben aufgesetzte Kopfschüsse getötet wird, ist es noch lange kein Mord. Der Brasilianer Jean Charles de Menezes wurde am 22. Juli 2005 im Londoner U-Bahnhof Stockwell von einer Anti-Terror-Einheit getötet, weil die Beamten ihn mit dem Terrorverdächtigen Hussain Osman verwechselt hatten. Die Geschworenen fällten am Freitag nach sechstägigen Beratungen ein "offenes Urteil". Das bedeutet, dass die Schuld an seinem Tod nicht geklärt werden kann.
Der 27-jährige de Menezes, der seit drei Jahren in London als Elektriker gearbeitet hatte, war an jenem Tag auf dem Weg zur Arbeit. Ursprünglich hatte die Polizei erklärt, de Menezes habe in direktem Zusammenhang mit den Anschlägen auf drei U-Bahnen und einen Bus gestanden, bei denen es am Vortag keine Opfer gegeben hatte, weil lediglich die Zünder, nicht aber die Bomben explodiert waren. Die Beamten waren bei der Untersuchung der Rucksäcke mit den Bomben auf eine Adresse im Londoner Viertel Tulse Hill gestoßen. In dem Apartmentblock wohnte auch de Menezes. Als er das Haus verließ, folgten die Beamten ihm zur U-Bahn. Er trug weder eine auffällig dicke Jacke, wie zunächst behauptet wurde, noch sprang er über die U-Bahn-Absperrung oder rannte vor der Polizei weg. Er saß ahnungslos im U-Bahn-Abteil, als er regelrecht hingerichtet wurde. Es war das erste Mal, dass die Richtlinien aus dem Jahr 2003 angewandt wurden, wonach die Polizei bei Verdacht auf einen Selbstmordattentäter gezielte Todesschüsse abgeben darf.
Die "komplette Vertuschung" des Polizeieinsatzes, wie es die Angehörigen von de Menezes am Freitag bezeichneten, war vom Untersuchungsrichter Michael Wright am Ende der zehnwöchigen Untersuchung, die sechs Millionen Pfund kostete, angeordnet worden. Er hatte den Geschworenen nicht erlaubt, auf unrechtmäßige Tötung oder gar Mord zu entscheiden. Sie hatten lediglich die Wahl zwischen rechtmäßiger Tötung oder einem offenen Urteil. In ihrer Urteilsbegründung ließen sie jedoch keinen Zweifel daran, dass sie der Darstellung der Polizisten nicht glaubten, obwohl ihnen der Richter lediglich gestattete, auf seine Fragen mit ja oder nein zu antworten.
Die beiden Polizisten, die die Schüsse abgefeuert hatten, behaupteten, dass sie vor der Eröffnung des Feuers zur Warnung "Bewaffnete Polizei!" gerufen haben. Die Geschworenen stuften das als Lüge ein. Ebenso wenig glaubten sie der Aussage, de Menezes habe sich bedrohlich auf die Polizisten zu bewegt. Darüber hinaus kritisierten sie, dass der Anti-Terror-Einheit keine vernünftigen Fotos von Hussain Osman vorlagen und dass sie de Menezes nicht aufgehalten haben, als er seine Wohnung verließ, sondern dass sie ihn zuerst in den Bus und dann in die U-Bahn einsteigen ließen. Die Angehörigen von de Menezes dankten den Geschworenen, dass sie in Anbetracht der Restriktionen, die ihnen der Untersuchungsrichter auferlegt hatte, das bestmögliche Urteil gefällt haben. "Uns ist in der letzten Woche deutlich geworden, dass die Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters immer mehr verschwand", sagte Jasmin Khan von der Kampagne "Gerechtigkeit für Jean" (www.justice4jean.org). "Das ist der Grund, warum die Familie keine andere Wahl hatte, als die Kooperation zu beenden."
Die Angehörigen zogen gegen Ende der Untersuchung ihre Anwälte zurück und boykottierten die Untersuchung. Richter Wright ordnete an, dass den Geschworenen die Gründe dafür nicht mitgeteilt werden durften. Er wies sie stattdessen an, sich nicht durch die Emotionen der De-Menezes-Familie beeinflussen zu lassen - wohl aber durch die der beiden Todesschützen. "Dieser harte, durchtrainierte, reife Mann brach weinend zusammen", sagte Wright über einen der beiden Polizisten. "Diese Tatsache mag ihnen dabei helfen, die tiefen Emotionen einzuschätzen, die dieser Mann durchmacht, wenn er an die furchtbaren Ereignisse des 22. Juli denkt." Das offene Urteil bedeutet, dass niemand für den Tod von Jean Charles de Menezes zur Rechenschaft gezogen wird. Cressida Dick, die den Polizeieinsatz leitete, ist kurz darauf zur stellvertretenden Polizeichefin befördert worden.
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