FRANZ LERCHENMÜLLER ICH MELD MICH : How many years du?
Das kann heiter werden. Wladimir spricht kein Englisch, ich kein Russisch. Und er ist der Mann, der mich vom abgelegenen Pokroskoje nach Mikolaiv begleiten wird, damit ich meinen Zug nach Kiew erreiche. Zwölf Stunden wird das dauern. Mit einem verrosteten Schiff setzen wir über nach Otschako. Wird Zeit für ein wenig Konversation. Ich nehme mein Notizbuch, zeige auf die Umrisse der verschwindenden Halbinsel: „Kinburska … und wo Mikolaiv?“ Wladimir versteht. Er skizziert mit Strichen eine Karte des Schwarzen Meers, der Krim und unserer Route nach Mikolaiv.
Na bitte. Das lässt sich gut an. Zeit, die Unterhaltung zu vertiefen. Was ist Wladimir von Beruf – raboti, raboti? Eifrig zieht er das Buch zu sich herüber. Drei Hochhäuser. Ach, Architekt? Er zuckt mit den Schultern und nickt. Wie alt, how many years du? In das mittlere Haus malt er eine schöne 48. Und wie steht es mit Kindern, Menschen, die einem nur bis zur Hüfte reichen? Fünf Köpfe wirft Wladimir aufs Papier – na also: auch Männer, die nicht viele Worte machen, können sich verstehen. Und so gestikulieren, zeichnen und grimassieren wir uns durch den Tag bis Mikolaiv. Dem Chaos in meinen Notizen entnehme ich, dass Wladimir bei der Armee war, einen Hund hat und seine Satellitenschüssel liebt. Leider ist sein Fernseher kaputt.
Endlich Mikolaiv. Wladimirs Tochter stößt zu uns. Sie lernt Deutsch in der Schule. Was denn ihre Geschwister machten, frage ich sie. Geschwister? Aber sie sei doch Wladimirs einziges Kind. Bitte? Ich zeige ihr die fünf kleinen Köpfe.
Sie blättert durch die Zeichnungen, spricht rasend schnell mit ihrem Vater und fasst dann das Resultat unserer zwölfstündigen Kommunikation noch einmal zusammen: Wladimir ist 35, arbeitet als Hausmeister in Block Nr. 48 und wuchs mit fünf Geschwistern auf. Er mag Fußball, geht gern auf die Jagd und hat kürzlich einen prächtigen Fuchs geschossen. Ein Fernseher kommt ihm nicht ins Haus.