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Archiv-Artikel

FOREVER YOUNG DANK RETROSCHLEIFE? Schläfer in der Metropole

MARTIN REICHERT

Neulich bin ich wieder aus Versehen in dieses Wurmloch geraten, das mich ungefähr zwanzig Jahre zurück in der Zeit katapultiert hat. In einer Berliner Bar saß eine Gruppe von „Jungs und Mädchen“, schätzungsweise um die zwanzig, die genauso aussahen wie weiland meine auf Alternativität besonnenen Altersgenossen während der Abiturzeit; also späte Achtziger, Anfang Neunziger. Stil Late-Eighties-Underground mit viel Schwarz, Silberschmuck, vereinzelten Tattoos – und das Irre war, dass sie exakt die gleiche Attitüde verströmten, einen Mix aus Blasiertheit, die Unsicherheit übertünchen soll, und einem gewissen Schuss Melancholie, wie man sie nur bei jungen Menschen antrifft, die irgendwo in der Provinz aufwachsen. In Gegenden, in denen man sehr weit fahren muss, um bei der nächsten „Disse“ anzukommen. Irgendwo im Wald. Anne Clark.

Diese jungen Leute kamen nun auch noch aus den USA; unklar, ob sie sich nur für einen Kurzurlaub in „Börlinn“ aufhielten oder im Rahmen eines elternfinanzierten Sabbaticals – seit einiger Zeit ist das groß in Mode in den USA, der Nachwuchs darf sich noch mal austoben, bevor er Anwalt wird und in die Suburbs zieht; aber das sind dann so die Details, die man ja selbst gar nicht blickt, wenn man so jung ist.

Sogar ich hatte vorübergehend die wahren Umstände verkannt, wurmlochbedingt. „Das Ich altert nicht“, Hannah Arendt, und nach dem zweiten oder dritten Bier war mir so, als wäre ich wieder genau in dieser Zeit, die ansonsten auf seltsame Weise verschüttgegangen zu sein scheint. Ein Geruch von Patchouli, Kiff, Bier, Schweiß und Zigarettenrauch in der Nase. Und dieses diffuse Gefühl: Ich habe alles im Griff – aber andererseits bin ich mir da auch nicht ganz sicher …

Ja, eben, andererseits: Hat sich denn an diesem Gefühlszustand wirklich etwas geändert, zwanzig Jahre später?

Wenig später begegne ich schon wieder jungen Leuten, die genauso aussehen. Dieses Mal kommen sie aus Amsterdam. Über Airbnb haben sie die Wohnung meines Lebensgefährten gemietet, und ich bringe ihnen die Schlüssel. Wieder viel Schwarz und Patchouli und dieser Blick, und wir quatschen so über die besten Bars in der Nachbarschaft und hey und so. Dann fragt sie: „Und dein Freund studiert gerade in Slowenien?“ Worauf ich dann sage, dass er dort gerade ein Seminar GIBT, und zugleich fällt mir ein, dass ich wiederum vor ungefähr zwanzig Jahren zuletzt in Amsterdam war, und das total bekifft. Darf man das da eigentlich noch?

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Donnerstag

FreitagMichael Brake Kreaturen

MontagCigdem Akyol Down

DienstagDoris Akrap Eben Mittwoch Anja Maier Zumutung

Apropos dürfen: Nach vier Tagen verschwinden die beiden Patchouli-Damen wieder in Richtung Amsterdam, und ich stehe wieder mit dem Schlüssel da, und zwar inmitten von Trümmern. Das Internet-Guthaben ist komplett runtergesurft. Geschirr unvollständig abgespült, angebrochener Joghurt im Kühschrank und Haare im Abfluss. Mal ganz davon abgesehen, dass die Wände der frisch gestrichenen Küche über und über mit Fett bespritzt sind.

So wird man dann endgültig aus dem Wurmloch zurückkatapultiert und darf der schlampigen Jugend hinterherputzen.