■ FLIEHEN – ABER WOHIN?: Wie mit Flüchtlingen Politik gemacht wird
„Nein, nicht eine Million, mehr als zwei Millionen Westsomalis sind aus dem äthiopischen Ogaden zu uns geströmt, und sie kommen immer noch, kommen bis hierher zu meinem Amtssitz und bitten um Aufnahme.“ Das sagte Somalias damaliger Staatspräsident Siad Barre, als ich ihn 1982 interviewte. Aus einigen hunderttausend Flüchtlingen machte Barre zwei Millionen!
Der im Januar 1991 nach blutigen Kämpfen gestürzte Potentat war ein Weltmeister der politischen Taktiererei und des machtbesessenen Ränkespiels. So schreckte er nicht davor zurück, einen äthiopischen Angriffskrieg zu erfinden, nur um vom Ausland Hilfe zu erhalten und die inneren Zwistigkeiten in seinem Staat zu übertünchen. Kein Wunder, daß er auch die ins Land geströmten Westsomalis für seine Zwecke ausbeutete. Und weil er auch im Überzeugen ein Weltmeister war, weil seine Beredsamkeit die bloße Fiktion zur Wirklichkeit werden ließ, glaubten ihm die westlichen Geber.
Dem UNHCR verweigerte Barre jahrelang, Zählungen in den Lagern durchzuführen. Hinter vorgehaltener Hand sprachen UNHCR-Mitarbeiter von 400.000 bis 700.000 Flüchtlingen. Doch offiziell übernahm die UNO-Behörde die somalische Regierungsangabe von 1,8 Millionen Flüchtlingen. Denn der UNHCR ist generell an die Informationen zunächst einmal gebunden, die ihm von seinen Mitgliedsstaaten – also von den jeweiligen Aufnahmeländern – übermittelt werden.
Folglich erhielt Somalia Nahrungsmittelhilfe nicht für die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge im Land, sondern für die horrend nach oben übertriebene Zahl. 200.000 Tonnen Getreide waren das durchschnittlich während der achtziger Jahre, etwa doppelt soviel, wie zur Ernährung der tatsächlichen Flüchtlingszahl notwendig war. Das zuviel erhaltene Getreide warf Barre zu billigen Preisen auf den Markt der Städte. Damit konnte Barre von seiner miserablen Landwirtschaftspolitik ablenken. Solange Brot reichlich und preiswert vorhanden ist, entsteht so schnell keine Revolution.
Die „großzügig“ gewährte Nahrungsmittelhilfe des Westens half nicht nur den Flüchtlingen – was ja richtig war –, sondern sie stabilisierte das Regime des Potentaten Siad Barre. Hätten die ausländischen Geber ihre Nahrungsmittelhilfe auf die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge beschränkt, dann wäre es mit der autokratischen Alleinherrschaft Barres und seiner Partei weit früher zu Ende gegangen, daß heißt, die Kriegsleiden der Bevölkerung wären von kürzerer Dauer gewesen, ebenso wie die Geburtswehen für ein „neues“ Somalia.
Der Großmut des Westens besaß selbstverständlich einen politischen Grund: Ihm hatte sich Barre nach einem Wendemanöver als unverbrüchlicher Freund präsentiert. Zum Beispiel, als er in Mogadischu den Sturm der GSG 9 auf die „Landshut“ gestattete. Walter Michler
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