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FLIEHEN – ABER WOHIN?Nach dem „Wüstensturm“

Der Krieg um Kuwait hat neue große Bevölkerungswanderungen ausgelöst. Viele Gastarbeiter aus den Armenhäusern der Welt, die sich bei den Ölprinzen als Kulis verdungen hatten, verloren neben ihrem Job auch all ihr Hab und Gut. Doch nicht nur Hunderttausende von Arbeitsimmigranten stehen nun vor dem Nichts. Der Golfkrieg hat auch eine gigantische Fluchtwelle kurdischer und schiitischer Iraker ausgelöst.  ■ VON GILDAS SIMON

Krise und Krieg am Golf haben einen entsetzlich hohen Blutzoll gefordert. Besonders hart betroffen war und ist dabei wieder einmal die Zivilbevölkerung. Doch der Krieg hatte auch noch andere Folgen: Millionen von Arbeitsimmigranten in den Ölstaaten verloren nicht nur Lohn und Brot, sondern auch ihre gesamte erarbeitete Habe. Ein klares Bild bezüglich der durch die Operation „Wüstensturm“ ausgelösten Bevölkerungswanderungen gibt es noch nicht. Noch weiß niemand genau, welche Langzeitfolgen der Krieg für die gesamte Region zeitigen wird. Doch zweifellos handelt es sich bei der Operation „Wüstensturm“ um eine traumatische Erfahrung. Und es steht zu befürchten, daß sie noch lange nachwirken wird – sowohl in den politisch instabilen Staaten der Region als auch bei den Millionen von Arbeitsimmigranten, die in den Ölmonarchien Beschäftigung gefunden hatten.

Innerhalb weniger Monate hat die „Kuwait-Krise“ mehrere Millionen Menschen gegen ihren Willen erneut zur Wanderschaft gezwungen. Drei bis vier Millionen Menschen wurden mit einem Schlag zu Flüchtlingen. Zuerst traf es die Bevölkerung Kuwaits. 450.000 Kuwaitis fanden Zuflucht und Hilfe in Saudi-Arabien. Sie wurden vorwiegend in den Städten an der Golfküste und in der saudischen Metropole Riad untergebracht. Etliche fanden auch an der Küste des Roten Meeres, weitab vom Kriegsschauplatz Zuflucht. Erst jetzt haben die kuwaitischen Behörden die Rückkehr dieser Flüchtlinge in das „befreite Land“ erlaubt. 10.000 Menschen sollen pro Tag in die Heimat einreisen dürfen. Es wird jedoch vermutet, daß das wirtschaftliche Chaos sowie die Umweltkatastrophe, die durch das Abfackeln der Ölquellen entstand, mehr als einen der Exilanten von der Rückkehr abhalten wird. Ja so mancher Kuwaiter wird das Land vielleicht erst jetzt verlassen. Fest steht, viele Tausende sind noch nicht zurückgekehrt, darunter ein großer Teil derjenigen, die von den Irakern verschleppt wurden.

Von der Krise ist auch eine enorme Zahl von Gastarbeitern in der Golfregion betroffen. Bis zur irakischen Invasion lebten in Kuwait etwa 1,1 Millionen Ausländer – fast drei Viertel der Gesamtbevölkerung des Emirats. Es handelte sich zu etwa gleichen Teilen um Araber – ca. 300.000 Palästinenser, die zumeist in den 50er Jahren gekommen waren, sowie etwa 200.000 Ägypter – und um Asiaten, die im Laufe der 80er Jahre einwanderten. Allein aus Indien kamen 180.000 Menschen, 90.000 aus Sri Lanka, 80.000 aus Bangladesch und ebensoviele aus Pakistan.

In kürzester Zeit wurden aus der Golfregion mehrere Millionen Menschen vertrieben

Man schätzt – verläßliche Volkszählungen existieren nicht –, daß im Irak vor der Kuwait-Invasion 1,6 Millionen Ausländer lebten. Das Gros stellte mit 1,2 Millionen Menschen Ägypten. Daneben lebten ungefähr 170.000 Palästinenser im Zweistromland. Fast zwei Drittel dieser arabischen Gastarbeiter mußten fliehen. Unter den schwierigsten Umständen versuchten sie, zurück in ihre Heimatländer zu gelangen. Im September und Oktober des vergangenen Jahres waren rund 600.000 Flüchtlinge, vorwiegend Ägypter, auf dem Weg durch Jordanien. Die indischen und pakistanischen Flüchtlinge suchten den Fluchtweg über die Türkei und den Iran. Besonders hart waren dabei die Flüchtlinge aus armen Staaten betroffen. Denn die Regierungen von Bangladesch, Sri Lanka und den Philippinen zeigten sich von der Rückwanderung ihrer Staatsangehörigen offensichtlich überfordert.

Tatsächliche oder vermeintliche Unterstützer Saddam Husseins sollen büßen – allen voran die Palästinenser

Vor allem die Einwanderer aus Staaten der anti-irakischen Koalition – Ägypter, Pakistani, Bengali – haben bei diesem Exodus zumeist alles verloren, was sie besaßen. Nicht nur die ausstehenden Löhne, sondern auch ihre gesamte persönliche Habe einschließlich ihrer Rücklagen bei irakischen und kuwaitischen Banken. Allein die Verluste der Pakistanis werden auf 400 Millionen Dollar geschätzt.

Die unglaubliche Geiselnahme, deren Opfer vor allem westliche Techniker und Führungskräfte und deren Angehörige im Irak wurden, hat deutlich gemacht, daß selbst diese Menschen ein hohes Risiko in Kauf nehmen, wenn sie in politisch unsicheren Regionen ihrer Tätigkeit nachgehen. Zweifellos wird dieses abschreckende Beispiel vielen zu denken geben, die sich bislang leicht verlocken ließen, zu äußerst günstigen Konditionen in einem Land der Dritten Welt zu arbeiten.

Wie sich in der Zukunft der Zustrom von Arbeitskräften an den Golf und in andere „Arbeitgeber-Regionen“ gestalten wird, bleibt ungewiß. In Kuwait herrschen chaotische Zustände, und niemand weiß, wie lange es dauern wird, die Umweltkatastrophe wenigstens halbwegs in den Griff zu bekommen. Die politische und wirtschaftliche Situation im Irak ist unsicher. Ungewiß scheint auch die Zukunft der Arbeitsimmigranten aus jenen Ländern, die sich auf die Seite Saddam Husseins geschlagen hatten. Wenn es nach dem Willen der Öl-Monarchen geht, dann sollen der Libanon, Jordanien, Jemen und Sudan für ihre Parteinahme büßen. Seit August 1990 sind fast eine Million Jemeniten aus Saudi-Arabien vertrieben worden. Die Erleichterungen bei der Ein- und Ausreise und in bezug auf die Arbeitserlaubnis, die man dem Nachbarvolk seit langem zugebilligt hatte, wurden außer Kraft gesetzt.

Das größte Problem indes ist die Lage der Palästinenser – jener Gastarbeiter, die aus den israelisch besetzten Gebieten und aus Jordanien kamen und die nun nicht nach Kuwait zurückkehren können. Ebenso problematisch ist die Lage jener Palästinenser, die noch im Emirat Kuwait leben. Sie gelten dort nun als „Kollaborateure“. Ihr Schicksal ist ungewiß, obwohl sie viele entscheidende und hochdotierte Stellungen in der kuwaitischen Wirtschaft und Verwaltung innehatten. So müssen die Angehörigen dieses Volkes, das seit 1948 ohne Heimat ist, wohl eine weitere Entwurzelung erdulden.

Aufgrund von trilateralen Abkommen und von Verträgen mit westlichen Unternehmen wird vermutlich ein Teil der „freigesetzten“ Arbeitskräfte aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten in Syrien und in Ägypten Beschäftigung finden. Einen Vorteil aus der Situation können wohl nur die Arbeitsimmigranten aus den asiatischen Ländern ziehen. Ihre Position auf dem „Arbeitsmarkt“ des Mittleren Ostens hatte sich bereits in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert. Einerseits waren sie billiger als arabische Arbeiter, und andererseits boten sie den Vorteil, in den großen politischen und religiösen Auseinandersetzungen, die in diesem Teil der arabischen Welt ausgetragen wurden, neutral zu sein. In Zukunft werden die Öl-Monarchien wohl bevorzugt Arbeitskräfte aus jenen Ländern beschäftigen, die sich an der anti-irakischen Koalition beteiligt haben. Doch schon bereiten sich auch andere Staaten darauf vor, neue Kontingente von Arbeitsemigranten an den Golf zu schicken. In Thailand und den Philippinen sollen bereits 120.000 Arbeitswillige eine Arbeitserlaubnis beantragt haben. Nach Schätzungen leben bereits etwa 140.000 ihrer Landsleute im Mittleren Osten.

Weil sie Signalen aus dem Westen folgten und gegen den Diktator aufbegehrten, mußten Kurden und Schiiten um ihr Leben rennen

Eine weitere tragische Folge des Kriegs um Kuwait ist der Exodus der Schiiten im Süden des Irak und die Flucht der Kurden aus dem Nordirak, nachdem ihr Aufstand gegen das Baath-Regime in Bagdad gescheitert ist. Insgesamt zwei bis drei Millionen irakische Kurden und Schiiten haben die Landesgrenzen überschritten, um in Nachbarstaaten Zuflucht zu suchen. Entweder im Iran – 30.000 bis 50.000 Schiiten und 750.000 Kurden – oder in der Türkei, wohin etwa eine Million Kurden floh. Die Kurden, die in den schneebedeckten Bergen des Grenzgebiets Schutz suchen, eingekeilt zwischen den Truppen dreier Staaten, die ihnen allesamt die Anerkennung als eigene Nation verweigern, sind ein tragisches Fanal für Situation unterdrückter Minderheiten. Doch solange es Hunger und Armut, politische Unterdrückung und Millionen von Entwurzelten gibt, wird es auch Fluchtbewegungen geben.

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